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Rentenreform in Frankreich: Die Tücken der Oppositionsstrategie
Weshalb das Linksbündnis Nupes mittlerweile eher schwächer ist als vor den Protesten gegen die Rentenreform
Es ist erst ein Jahr alt – und verliert schon wieder Kraft? Am Donnerstag beging das französische Linksparteienbündnis Nupes seinen ersten Geburtstag – ohne wirkliche Feierlaune. In den ersten Maitagen des vorigen Jahres hatten die linke Wahlplattform LFI (»Das unbeugsame Frankreich«), die französische kommunistische Partei PCF, die sozialdemokratische Partei PS und die französischen Grünen ein gemeinsames Wahlbündnis für die Parlamentswahlen im Juni 2022 geschlossen. Nun sucht die Allianz linker Parteien nach einer Strategie. Denn die Nupes – und vor allem ihre stärkste Einzelpartei LFI – ist derzeit, nach vier Monaten außergewöhnlich starker sozialer Proteste gegen die Rentenreform, eher schwächer als zu Beginn der Proteste. Das wirkt auf den ersten Blick paradox und ist erklärungsbedürftig.
An Unterstützung aus LFI und den übrigen Parteien der lockeren Linksallianz für die Gewerkschafts- und Bürger*innenproteste mangelte es nicht. Die letzten im Ausmaß vergleichbaren sozialen Bewegungen fanden im Herbst 1995 gegen die damalige Version einer geplanten Rentenreform sowie im Frühjahr 2006 gegen Angriffe auf den Kündigungsschutz für jüngere Beschäftigte statt. Die diesjährigen Demonstrationen waren größer. Doch anders als zuletzt 2006 führten sie zu keinem Erfolg – die Regierung hat die Rentenreform beschlossen.
Es besteht und bestand auch wenig Hoffnung, dass die Fraktionen des Linksbündnisses im Parlament viel ausrichten können. Nupes ist zwar das stärkste Oppositionsbündnis mit 130 Sitzen in der Nationalversammlung, gefolgt von dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) mit 88 Sitzen. Doch aus eigener Kraft können die Linken keine Mehrheit bilden. Sie müssten Kompromisse mit weit rechts von ihnen stehenden Gruppen machen.
Konkurrenzverhältnis zu den Gewerkschaften
Die LFI hätte aus ihrer parlamentarischen Präsenz in Verbindung mit ihrer Beteiligung an den Protesten auf den Straßen eine starke Oppositionsdynamik entwickeln können. Doch ihre Position wurde geschwächt, zunächst durch intern wie extern laut werdende Fragen nach ihrer Strategie. Dabei geht es um das zunehmend offenliegende Konkurrenzverhältnis zu den Gewerkschaften.
Dieser Streit ist schon älter. Bereits im Frühjahr 2017, rund um die damalige erste Wahl des Wirtschaftsliberalen Emmanuel Macron in den Elysée-Palast, und dann während der Teuerungs- und Lohnproteste im Herbst 2022 versuchte LFI sich phasenweise an die Spitze der Proteste zu stellen. Sie meldete beispielsweise eigene Demonstrationstermine an, oft an Samstagen, »um auch Nicht-Arbeitnehmer*innen oder abhängig Beschäftigten, die es sich nicht erlauben können zu streiken, eine Teilnahme zu ermöglichen«. Die Gewerkschaftsspitzen betrachten dies oft als Konkurrenztermine zu ihren Aktionstagen und Streikterminen. Dies gilt etwa für den von LFI angesetzten Protesttag am 16. Oktober vorigen Jahres zur Inflation oder am 21. Januar dieses Jahres zur Rentenreform. Der damalige CGT-Generalsekretär Philippe Martinez kritisierte dies auch öffentlich.
Bei der Festlegung der mittlerweile 13 aufeinanderfolgenden Aktionstage gegen die Rentenreform behielten daraufhin die Gewerkschaftsführungen, zusammengeschlossen im Aktionsbündnis, das als die »Intersyndicale« bezeichnet wurde, die Nase vorn. LFI verlor die Initiative und konnte die Strategie und den Rhythmus nicht mitbestimmen.
War die Verzögerungsstrategie ein Fehler?
Noch entscheidender waren die Fallstricke der parlamentarischen Oppositionsstrategie von LFI. Diese hatte bereits in der Vergangenheit bei harten Auseinandersetzungen um zentrale Reformvorhaben der Regierung darauf gesetzt, das parlamentarische Verfahren möglichst in die Länge zu ziehen und vorübergehend zu blockieren, indem möglichst viele Änderungsanträge eingebracht wurden. Rund 20 000 wurden es zur Rentenreform. Manche von ihnen waren eher inhaltsleer und liefen etwa darauf hinaus, eine Zahl statt in Ziffern in Buchstaben auszuschreiben.
Nur konnte eine Verzögerungsstrategie bei der Verabschiedung dieser »Reform« nicht greifen: Da die Regierung die Pläne als vermeintliches Haushaltsgesetz deklariert hatte – formal als »Nachtragshaushalt zum Budget der Sozialversicherungssysteme für 2023« –, wurde dadurch das parlamentarische Verfahren nach Artikel 47 der Verfassung auf maximal 50 Tage eingegrenzt. Verstreicht diese Frist, darf die Regierung die Reform auf dem Verordnungsweg verabschieden. Dadurch lief die Verschleppungstaktik ins Leere.
Im Ergebnis wurde der zentrale Artikel 7 der Vorlage, in dem die Erhöhung des Rentenmindestalters von 62 auf 64 Jahre steht, verabschiedet, ohne dass die Abgeordneten darüber diskutieren und abstimmen konnten. LFI stellte dies als relativen Erfolg dar: So könne die Regierung sich nicht auf die demokratische Legitimation berufen, die Abgeordneten hätten ihr zugestimmt. Kritiker, auch innerhalb der Linken, behaupteten hingegen, dadurch sei eine Chance zur Ablehnung vertan worden. Ob es wirklich eine parlamentarische Mehrheit für eine Ablehnung gegeben hätte, ist angesichts der gespaltenen und zersplitterten bürgerlichen Opposition eine offene Frage.
Keine der beiden Optionen – auf eine Abstimmung über den Artikel 7 hinarbeiten oder auf eine Verabschiedung am Parlament vorbei – war eindeutig die bessere und risikolos. Die Gewerkschaftsvorstände von CGT und CFDT hatten eine Blockadestrategie abgelehnt, beide wollten, dass über den Artikel 7 abgestimmt wird. Letztlich kam es dann nicht zur Abstimmung, wie LFI-Gründer Jean-Luc Mélenchon es angestrebt hatte. Verhindert wurde die Verabschiedung dadurch nicht – damit erscheint die LFI-Strategie letztlich diskreditiert.
Der seinerseits um Profilierung durch soziale Demagogie bemühte rechtsextreme RN versuchte daraufhin, an Lautstärke LFI den Rang abzulaufen und gleichzeitig deren »gehaltlose Chaosstrategie« anzuprangern, um sich als »konstruktive und entschlossene Opposition« darzustellen. Zugleich kritisieren die Rechtsextremen, deren eigene Abgeordnete einem Krawattenzwang unterliegen, in der Öffentlichkeit das »verstrubbelte Auftreten« der Linksopposition, die das Parlament nicht respektiere und deren Mitglieder sich dort wie »Platzbesetzer« aufführten.
Der RN stellt nun in seinem Diskurs die Linksfraktionen als »nützliche Idioten« der wirtschaftsliberalen Mehrheit hin und versucht so, den Spieß umzudrehen: Im Sommer 2022 hatte die Linke den RN heftig kritisiert, weil dieser mehreren wirtschaftsliberalen Texten zugestimmt hatte.
Streitigkeiten innerhalb von La France Insoumise
Einen weiteren Faktor bei der relativen Schwächung von LFI sind innere Streitigkeiten. Dabei geht es um innerparteiliche Demokratie, aber auch um den Umgang mit der Verurteilung des jungen Abgeordneten Adrien Quatennens. Der demnächst 33-Jährige vertritt einen Wahlkreis in der nordfranzösischen Stadt Lille. Nicht wenige hielten ihn für einen potenziellen Nachfolger Mélenchons an der Spitze der Wahlplattform. Am 13. Dezember vorigen Jahres wurde er dann wegen häuslicher Gewalt zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt: Er hatte zugegeben, im Rahmen einer konflikthaft verlaufenden Scheidung seine Ehefrau geohrfeigt zu haben. Die LFI-Fraktion entzog ihm daraufhin für vier Monate, angelehnt an die Dauer der Bewährungsstrafe, die Mitgliedschaft und nahm ihn im April dieses Jahres wieder auf.
Seit vergangenem Herbst kam es zu Konflikten über den innerparteilichen Umgang mit ihm. Ein Teil seiner Abgeordnetenkollegen stellte sich hinter ihn, auch Mélenchon schien ihn schützen zu wollen. Andere in der Fraktion und Partei bemängelten eine unzureichende Kritik an seinem Verhalten, zumal Quatennens unmittelbar nach dem Urteil dem Privatfernsehsender BFM TV ein Interview gab, in dem man stellenweise heraushören konnte, dass er sich als Opfer sieht. Wieder andere machten geltend, eine strafrechtliche Sanktion dürfe keine »Verbannung ohne Zeitgrenze« bedeuten, vielmehr sei ein strafbares Verhalten mit ihr abgegolten. Kompromiss war dann, dass Quatennens einen Lehrgang zur Sensibilisierung für familiäre Gewalt belegen sollte.
Am vorigen Freitag wurde durch die linke Internetzeitung »Mediapart« publik, LFI-Mitglieder, die die Parteispitze kritisiert oder einen Ausschluss von Quatennens gefordert hatten, seien von Parteifreunden mit einer Reihe personenbezogener Anmerkungen in einer Datei gespeichert worden. »Mediapart« veröffentlicht dazu ein fünfseitiges Dokument mit persönlichen und politischen Kommentaren zu den Eingespeicherten. Die, zugespitzt formuliert, Bespitzelungsaffäre dürfte LFI zusätzlich politisch schwächen.
In einer früheren Fassung stand, dass LFI 130 Abgeordnete in der Nationalversammlung hat. Richtig ist, dass das Linksbündnis Nupes insgesamt 130 Sitze hat, darunter sind 75 LFI-Abgeordnete. Wir haben die Passage korrigiert.
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