Gefangen hinter offenen Türen: Teilanstalt Kisselnallee Spandau

Grundsätzlich ist der offene Vollzug die Regel in Berlin, viele Plätze gibt es aber nicht

Dass Menschen sich gegenseitig wegsperren können und den Eingesperrten damit nicht nur die Bewegungsfreiheit, sondern oft auch jeglicher Zugang zum gesellschaftlichen Leben genommen wird, ist ein fragwürdiges Konzept. Und doch wird das Gefängnissystem im Grundsatz kaum in Frage gestellt. Innerhalb dieses Systems gibt es immerhin die Möglichkeit, dass sich Gefangene verhältnismäßig frei bewegen können: der offene Vollzug.

In solch einer Teilanstalt des offenen Vollzugs in Spandau hat am vergangenen Freitag ein »Tag der offenen Tür« stattgefunden. Dass ein Gefängnis auch offen sein kann, sogar einen »Tag der offenen Tür« veranstaltet, klingt an sich etwas paradox. »Der offene Vollzug ist nicht unumstritten«, sagt dann auch Dirk Feuerberg, brandneuer Staatssekretär für Justiz in der nun CDU-geführten Senatsjustizverwaltung, am Freitag beim Besuch der Teilanstalt in der Kisselnallee. Feuerberg hält die Vollzugsform aber für wichtig, es sei immerhin der Regelvollzug in Berlin. »Die Arbeit hier ist ein Dienst für die Inhaftierten und für die Gesellschaft«, so der ehemalige Staatsanwalt.

Im offenen Vollzug dürfen die Gefangenen das Gefängnisgelände tatsächlich verlassen – hauptsächlich zur Lohnarbeit natürlich, denn sie sollen ja zu funktionierenden Teilen der Gesellschaft gemacht werden. Und die wünscht sich eben zuallererst Arbeitskräfte. So geht es auch aus dem Faltblatt zur Veranstaltung hervor: »Geeignete Gefangene haben im offenen Vollzug die Möglichkeit, als Freigänger eine Arbeit fortzuführen beziehungsweise aufzunehmen«, so die grundsätzliche Beschreibung dieser Vollzugsform.

Entsprechend irritiert reagiert Sozialarbeiter Jeffrey Peise auf die »nd«-Nachfrage, ob denn die Inhaftierten nach der Arbeit auch noch ein Feierabendbier trinken dürften. »Wenn die Insassen sehr stark gelockert sind, dann können sie nach der Arbeit auch noch zu ihrer Familie oder etwas anderes machen, zum Beispiel auch in den Biergarten gehen«, erklärt er aber schließlich.

Zu den Aufgaben der Abteilung Soziale Arbeit im offenen Vollzug gehörten einerseits die »permanente soziale Begleitung« der Gefangenen und andererseits die Prüfung, ob sogenannte Selbststeller*innen tatsächlich für den offenen Vollzug »geeignet« sind, erklärt Peise. Diese Prüfung werde durchgeführt, wenn ein Gericht einer verurteilten Person zutraut, selbstständig die Haftstrafe anzutreten und sich diese dann beim offenen Vollzug »stellen« müssen.

Wenn die Inhaftierten in der Teilanstalt Kisselnallee die maximal mögliche Bewegungsfreiheit genießen, dann müssen sie eigentlich nur zum Schlafen zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens auf ihren Zimmern sein. Am Wochenende könnten sie sogar komplett dem Gefängnisgelände fernbleiben, sagt Peise. Sie müssen aber mitteilen, wo sie sich aufhalten.

Diese maximale Form der »Lockerung« gilt nicht für alle: »Es gibt viele Abstufungen«, sagt Peise. Wenn die Verurteilten zu Beginn ihrer Haftstrafe im offenen Vollzug ankommen, dann dürfen sie das Gefängnisgelände gar nicht verlassen, bis nach zwei bis vier Wochen ein Vollzugsplan erstellt worden sei. »Arbeitspflicht« besteht derweil trotzdem. Und so sind die Gefangenen gezwungen, im Gefängnis zu einem Stundenlohn »im niedrigen Eurobereich«, wie Peise mitteilt, zu arbeiten. Das geschieht zum Beispiel in der Gärtnerei, welche am »Tag der offenen Tür« stolz ihre Topfblumen verkauft.

Die Gefangenengewerkschaft GG/BO setzt sich schon lange für angemessene Entlohnung und Arbeitsbedingungen der Gefangenen ein. »Das Gefängnissystem, wie es jetzt ist, gehört abgeschafft. Es ist nicht reformierbar«, sagt Matzke. Im bestehenden System sei der offene Vollzug noch die beste Option, sagt Matzke. »Das ist das einzige System, das überhaupt klappen kann, wenn es denn richtig gemacht wird.« Diese Möglichkeit müsse viel mehr genutzt und ausgebaut werden. »Häufig sind in den Einrichtungen des offenen Vollzugs viele Plätze nicht belegt.« Laut Matzke sollten alle zur Verfügung stehenden Plätze auch genutzt werden, und Selbststeller*innen sollten regulär im offenen Vollzug ihre Haftstrafe verbringen.

In der Justizvollzugsanstalt (JVA) des offenen Vollzugs Berlin stehen laut aktueller Belegungsstatistik der Justizverwaltung 863 Plätze zur Verfügung, von denen 584, also 68 Prozent, belegt sind. In der Teilanstalt Kisselnallee, in der Männer mit Haftstrafen von bis zu 2,5 Jahren einsitzen, sind von 170 Plätzen nur 79 belegt. Insgesamt stehen im offenen Männervollzug 965 Plätze zur Verfügung, davon sind 70 Prozent, also 670 Plätze belegt. Zum Vergleich: Im geschlossenen Männervollzug stehen 2619 Plätze zur Verfügung, von denen 2342, also 89 Prozent, belegt sind.

Auch der Verein Freie Hilfe Berlin, der Unterstützung von Menschen vor, während und nach Haftstrafen anbietet, plädiert für eine Verlagerung vom geschlossenen zum offenen Vollzug. »Der offene Vollzug ist das beste System, um Resozialisierung überhaupt möglich zu machen. Es braucht mehr offenen Vollzug«, sagt Anja Seick zu »nd«. Im geschlossenen Vollzug, in dem jegliches selbstständige und soziale Leben unmöglich sei, könne das nicht funktionieren.

Der Anstaltsleiter der JVA des offenen Vollzugs, Thorsten Luxa, hofft darauf, dass seine Anstalt auch in Zukunft so weiterarbeiten könne wie bisher mit den Mitteln, die aktuell zur Verfügung stünden. Er hält den offenen Vollzug für vielversprechend, gerade bei denjenigen in der Kisselnallee, die zu relativ kurzen Haftstrafen verurteilt wurden. Diese seien gut mit sozialer Arbeit zu erreichen – im Gegensatz zu »Wirtschaftskriminellen« zum Beispiel, so Luxa.

So viel Freiheit der offene Vollzug auch verspricht – Gefangene bleiben Gefangene. So dürfen sie ihre privaten Mobiltelefone beispielsweise nicht mit auf ihre Zimmer nehmen und jeder Verstoß gegen ihre Haftbedingungen kann zu Einschränkungen ihrer gestatteten Aufenthaltszeit außerhalb des Gefängnisses oder gar zu einer Verlegung in den geschlossenen Vollzug führen. Wenn Gefangene alkoholisiert zurück in die Einrichtung kommen oder es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, werden sie in eine klassische Gitterzelle gesperrt – bis sie »zur Ruhe kommen«, wie die Justizvollzugsbeamte erklärt, die die Besucher*innen am Freitag durch ein Gefängnisgebäude führt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.