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»Ich plädiere immer für Hoffnung«

Die Filmemacherin Alessandra Coronato über Zufallsbegegnungen, Neuanfänge und das kleine süditalienische Dorf Pertosa .

  • Marta Popowska
  • Lesedauer: 7 Min.
Alessandra Coronato hat einen Film über das kleine süditalienische Dorf Petrosa gedreht, dessen Bewohner*innen nach traditioneller Art Tomatensoße einkochen.
Alessandra Coronato hat einen Film über das kleine süditalienische Dorf Petrosa gedreht, dessen Bewohner*innen nach traditioneller Art Tomatensoße einkochen.

Frau Coronato, Sie sind eigentlich Texterin. Wie sind Sie zum Filmemachen gekommen?

Interview

Alessandra Coronato (31) arbeitete lange als Texterin in der Werbebranche. Während der Pandemie überdachte die Stuttgarterin ihr Lebenskonzept, orientierte sich neu und drehte einen Film über den Heimatort ihres Vaters. »Paradiso« ist eine Hommage an das kleine süditalienische Dorf Pertosa, dessen Bewohner*innen nach traditioneller Art Tomatensoße einkochen.

Die Pandemie gab den Impuls. In unserer schnelllebigen Leistungsgesellschaft haben wir oft weder die Zeit noch die finanziellen Ressourcen, um innezuhalten und eigene Entscheidungen zu hinterfragen. Durch das Ausbleiben nahezu all meiner Aufträge Anfang 2020 hatte ich als Freiberuflerin einerseits Existenzängste, andererseits aber auch viel Zeit. Ich fing an, mein Leben zu hinterfragen. Ich habe in dieser Zeit festgestellt, dass ich in den Jahren zuvor wie auf Autopilot vor mich hin gelebt und gar nicht wirklich das gemacht habe, was ich eigentlich wollte.

Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Ich habe gemerkt, dass ich audiovisuelle Geschichten erzählen möchte, die zum Nachdenken anregen. Die Entscheidung zu treffen, mich beruflich umzuorientieren, war ein langer Prozess und hat mich einiges an Überwindung gekostet. Ich hatte keinerlei technische Vorkenntnisse und musste mir, in dieser finanziell unsicheren Zeit, eine Kamera und Equipment kaufen. Mich trotz der Gegebenheiten dem Risiko des Scheiterns auszusetzen, ist mir nicht leichtgefallen. Und auch die Tatsache, mit 30 nochmals zu studieren, entspricht nicht gerade der Norm. Aber ich sehe es als Möglichkeit zu beweisen, dass es nie zu spät ist, das zu tun, was einen wirklich erfüllt. Ich möchte nichts bereuen müssen.

Sie haben sich dann auch gleich an Filmhochschulen beworben.

Genau, ich habe ich mich an der Filmakademie in Ludwigsburg und an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin (DFFB) beworben. Um zur Aufnahmeprüfung eingeladen zu werden, muss man einen etwa siebenminütigen Bewerbungsfilm einreichen.

Sie haben sich dann entschieden, einen Dokumentarfilm zu drehen. Worum geht es in »Paradiso«?

Er zeigt die Lebensrealität des Heimatdorfes meines Vaters. Pertosa heißt das 670-Seelen-Dorf. Es liegt im Nationalpark Cilento, 126 Kilometer südöstlich von Neapel. Im Film begleite ich drei Protagonist*innen aus zwei Generationen, die ihre Erfahrungen und Gedanken über ihr Leben und die Tradition des Konservierens der Tomate teilen. Dabei wandern sie zwischen Vergangenheit und Zukunft, Apathie und Euphorie, Perspektivlosigkeit und Hoffnung. Vor allem aber vermitteln sie eine tiefe Verbundenheit und Liebe zu ihren Wurzeln.

Der Film ist aber nicht sieben, sondern 40 Minuten lang geworden.

Das stimmt, letzten Endes habe ich den Film auch nicht eingereicht. Denn vor Ort habe ich gemerkt, dass man dieses Dorf nicht in sieben Minuten erzählen kann. Für die Bewerbungen habe ich einen anderen, eher künstlerischen Film eingereicht. Paradiso habe ich dann unabhängig zum Bewerbungsprozess mit Hilfe eines Stipendiums realisiert. Das Dorf ist so besonders, ich wollte meinen Wurzeln und den Menschen, die dort leben, mit dem Film meine Wertschätzung entgegenbringen.

Hatten Sie schon vorher eine konkrete Idee, wie der Film werden soll?

Als ich mich gemeinsam mit einer Freundin auf den Weg gemacht habe, hatte ich eigentlich ein anderes Thema im Kopf. Ich wollte zunächst einen Film über den Aberglauben der Menschen machen. Ich finde jedoch den Gedanken schön, manches dem Zufall zu überlassen, die Kontrolle abzugeben und die Dinge so anzunehmen, wie sie kommen. In unserer Welt ist vieles so berechnend und vorhersehbar. Das gibt uns einerseits Sicherheit, schränkt uns gleichzeitig aber auch in unserer Freiheit ein. Mit »Paradiso« habe ich versucht, aus dem Altbekannten auszubrechen und mich ins Unbekannte zu stürzen. Ich habe niemanden aktiv angesprochen, sondern bin mit den Leuten im Dorf ins Gespräch gekommen. Sie haben mich mit meiner Kamera gesehen und mich angesprochen oder angeschrieben. Manche Begegnungen kann man einfach nicht planen. Die Ordnung der Audiospuren ist zum Beispiel auch eine Mischung aus Zufall und Intention.

Warum hat der ursprüngliche Plan nicht geklappt?

Über Aberglauben wollte einfach niemand mit mir sprechen. Alle beteuerten, sie seien gar nicht abergläubisch. Im Alltag scheint der Aberglaube aber doch häufiger durch, als viele zugeben würden (lacht). Ich hätte das auch noch weiterverfolgen und hartnäckiger sein können. Aber irgendwie wollte ich diesen Widerstand dann auch Widerstand sein lassen und mich auf die Geschichten einlassen, die die Leute gerne erzählen wollten.

Sind Familienmitglieder im Film zu sehen?

Nein. Ich habe Berührungspunkte zu den Menschen im Film, aber es ist schon eine gewisse Distanz da. Das wäre mir sonst tatsächlich schwergefallen.

Dieser persönliche Bezug machte es sicher schwer, die journalistische Distanz zu wahren.

Sicherlich, ja. Wenn man zu nah dran ist, birgt das immer die Gefahr, nicht mehr objektiv zu arbeiten.

Weil man vielleicht auch zu nachsichtig ist?

Das ist wahrscheinlich auch in diesem Fall noch so, denn ich bin diesem Dorf emotional einfach sehr verbunden. Andererseits war das gegenseitige Vertrauen ein großer Vorteil in der Arbeit. Ich denke, das hätte ich in der Kürze der Dreharbeiten woanders nur schwer aufbauen können.

Wie haben Sie es geschafft, dass die Protagonist*innen Ihnen ihre Geschichten vor der Kamera erzählt haben?

Gerade die Älteren waren sehr offen. Ich habe ihnen erzählt, dass ich einen Film über das Leben im Dorf machen möchte und eines Abends meinte Maria, eine der Protagonistinnen: ›Wir gehen morgen Tomaten ernten, kommt doch einfach mit.‹ Und so sind meine Freundin, die mich als Kameraassistentin begleitet hat, und ich um vier Uhr morgens aufgestanden und mit ihnen aufs Feld gefahren, um die Tomatenernte zu filmen. Das war ein großartiges Gefühl. Beim Einkochen der Tomatensoße war ich als Kind auch jedes Jahr dabei. Aber die Ernte habe ich nie miterlebt. In diesem Prozess stecken so viel Hingabe und Zeit. Es war schön zu sehen, wie viel Geduld die Menschen für diese Tradition mitbringen.

Das Heimatdorf ihres Vaters teilt das Schicksal sehr vieler süditalienischer Dörfer. Sie erleben seit Jahren eine extreme Abwanderung. Es bleibt die Angst, dass alte Traditionen irgendwann verloren gehen. Wie sehr hat Sie die Tatsache berührt?

Natürlich berührt mich das sehr. Gerade im Winter ist das Dorf oft wie ausgestorben. Das zu sehen, geht nicht spurlos an mir vorbei. Ich habe auch von vielen Ausgewanderten Rückmeldung bekommen. Ein Mann, der mittlerweile in London lebt, schrieb mir, es sei zwar schön, Pertosa aus der Ferne zu sehen. Es mache ihn aber auch wehmütig, sein Dorf so leer zu sehen.

Haben Sie schon ein Screening im Dorf gemacht?

Noch nicht. Das ist für den Sommer geplant.

Werden Sie dabei sein?

Ja, ich werde gemeinsam mit einer Freundin runterfahren. Zuvor ist am 20. Mai ein Screening im Werkstatthaus in Stuttgart geplant. Dabei kam die Idee auf, im Rahmen des Abends Spenden zu sammeln und diese dann an das Forum der Jugendlichen in Pertosa weiterzuleiten. Sie sind auch im Film zu sehen und haben vor zwei Jahren ein Fotoprojekt ins Leben gerufen, das dank der Spenden auch in diesem Jahr weitergeführt werden kann. Denn die finanziellen Mittel im Dorf sind begrenzt. Bisher haben die Mitglieder des Forums alles aus eigener Tasche finanziert. Die Jugendlichen waren begeistert von der Idee und finden es schön, dass sich jemand für ihre kleine Lebensrealität interessiert.

Gehört es zur Lebensrealität der jungen Menschen, dass es nicht viele Freizeitmöglichkeiten gibt?

Die Möglichkeiten sind begrenzt. Die Pandemie war ein weiterer Einschnitt. Gerade den jungen Menschen fehlen berufliche Perspektiven. Das ist besorgniserregend. Nicht ohne Grund wandern die Leute aus. Selbst der einzige Obst- und Gemüseladen im Dorf ist mittlerweile weg. Auch die medizinische Versorgung ist ein Thema. Ein Krankenhaus gibt es nämlich nicht. Und das nächstgelegene stand zeitweise zur Disposition.

Glauben Sie, es gibt noch Hoffnung?

Ich will sie nicht aufgeben. Und ich merke auch bei den Einwohner*innen, dass sie sich nicht mit den Gegebenheiten zufriedengeben. Die Realität sieht nicht unbedingt rosig aus, aber ich plädiere immer für Hoffnung.

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