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Nicole Gohlke: »Uns fliegt das Schulsystem um die Ohren«
Um endlich gleiche Chancen auf gute Bildung zu schaffen, muss das Schulsystem neu gedacht werden, meint Nicole Gohlke.
Bildung ist ein Zukunftsthema und eine der großen Herausforderungen der Politik. Der Nationale Bildungsbericht bescheinigt, dass sich in den vergangenen 20 Jahren keine spürbare Entkoppelung von Bildungserfolg und sozialer Herkunftfeststellen lässt. Der Bildungsforscher Aladin El Mafaalani bezeichnet die dramatische Lage des Bildungssystems als »das größte innenpolitische Problem, das Deutschland hat«. Die Bundesregierung rief zu Beginn ihrer Amtszeit ein »Jahrzehnt der Bildungschancen« aus. Eine neue Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern, ein »Startchancenprogramm« für 4000 Schulen und ein Bildungsgipfel wurden angekündigt.
Nach gut einem Jahr Ampel-Amtszeit ist der Hype des Aufbruchs jedoch verpufft und die Bilanz äußerst dünn – fern ab von »Trendwende«. Viel schlimmer noch: Uns fliegt das Schulsystem um die Ohren und der Bildungsgipfel der Bundesregierung im März war ein Totalausfall. Vom Format mehr eine schlecht organisierte Podiumsdiskussion am Rande einer Tagung zu Bildungsforschung. 14 von 16 Kultusminister*innen ersparten sich den Weg, denn es gab nicht einmal einen eigenen Vorschlag des Veranstalters, des Bundesbildungsministeriums. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger rief lediglich eine »Taskforce Bildung« aus, die aber schon nach drei Tagen wieder Schnee von gestern war, weil die Länder nicht mitmachen – eine Blamage für die Ministerin und ein Schlag ins Gesicht derer, die in den Schulen lernen, lehren und arbeiten.
Weder in der Kultusministerkonferenz der Länder noch in der Bundesregierung gibt es einen Masterplan mit gemeinsamen Bildungszielen oder eine Strategie, wie Bildungsungleichheit abgebaut werden soll. Lieber kreiert die Bundesbildungsministerin Ideen wie Leistungsprämien für Lehrkräfte oder ein Programm für mehr finanzielle Bildung, worüber vermutlich Banken und Lobbyisten der Markt des Klassenzimmers eröffnet wird. Und während manches Bundesland wegen Personalmangels auf die Idee einer Vier-Tage-Unterrichtswoche kommt, verdient sich der privatwirtschaftliche Sektor der Nachhilfe und anderer Bildungsangebote eine goldene Nase.
Eigentlich gibt es ein Grundrecht auf Bildung – für alle. Aber praktisch ist das Schulsystem geprägt vom Mittelschichtsdenken. Wer es sich leisten kann, ordert für den Nachwuchs teure Nachhilfe, Lern-App-Abos und sichert damit bessere Startchancen und Lernbedingungen. Wer es sich nicht leisten kann, dessen Kinder fallen schneller durchs Raster. Lehrkräften ist unter den derzeitigen Bedingungen individuelle Förderung kaum möglich. Die frühe Selektion nach der Grundschule eröffnet dann das Rennen auf die »guten« Schulen. Manchen Eltern bereitet dieser Kampf um einen guten Schulplatz schlaflose Nächte. Die vermeintliche Gerechtigkeit der bloßen Leistungsbewertung blendet ein gehöriges Stück der Bedingungen aus. Aber es gibt Alternativen.
Wer Bildungsgerechtigkeit will, macht sich stark für »Eine Schule für alle« mit einer neuen Lernkultur – modern, inklusiv, demokratisch, sozial. Die Linke im Bundestag fordert ein 100-Milliarden-Euro-Bundesprogramm für Bildung und barrierefreie, energieeffiziente, einladende Schulgebäude. Denken wir Schulbau neu! Schaffen wir gute Lern- und Arbeitsbedingungen für Lehrer*innen! Es braucht ein bundesweites Bildungsrahmengesetz für gleiche Rahmenbedingungen. Verteilen wir Bildungsmittel gerecht nach einem bedarfsgerechten Sozialindex und schaffen wir Gebührenfreiheit für öffentliche Bildungsangebote. Bringen wir verbindliche Qualitätsstandards in einen flächendeckenden Ganztag.
Eine moderne Bildungspolitik geht nur im Zusammenhang mit einer Armut bekämpfenden Steuer- und Sozialpolitik und kann auch nur gemeinsam mit einer gerechten Arbeitsmarktpolitik Wirkung entfalten. Wer wirklich Bildungsgerechtigkeit schaffen will, muss das Schulsystem neu denken und über den Tellerrand von Ländergrenzen hinaus handeln.
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