Wahlen in der Türkei: Das Übel, das man kennt

In der Türkei zählen die Menschen die Tage bis zu den Wahlen am 14. Mai

  • Sibel Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir steigen in ein Taxi, es ist früh morgens. Ein älterer Mann fährt. Er erzählt, dass er zwar Nachtschicht hatte, jetzt aber eine weitere Schicht macht, weil er in der Nacht nicht genug verdient hat. »Ich schlafe nicht so gern«, sagt er. Ich schweige, denn ich glaube, das sagt er nicht zu mir, sondern sich selbst, um die Erschöpfung auszuhalten.

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Sibel Schick
Sibel Schick ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschland. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellschaft«. Darin schreibt Schick gegen das Patriarchat und den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft an. Alle Texte unter dasnd.de/gesellschaft.

Seine Tochter, erzählt er beim Fahren, wohnt hier um die Ecke. Sie ist Lehrerin, verdient aber nicht genug, um sich die Miete alleine leisten zu können, daher hilft er ihr. In Großstädten der Türkei herrschen Münchener Mietpreise, während der monatliche Mindestlohn 400 Euro netto beträgt. 3.000 Lira im Monat, etwa 140 Euro, gebe er seiner Tochter als Unterstützung und irgendwo muss das Geld ja herkommen. Das bedeutet mehr Arbeit und weniger Schlaf für den Mann, der sich um seine Tochter kümmern will und dabei an seine Grenzen gekommen ist. Inzwischen müssen sich die Menschen in der Türkei nicht mehr nur zwischen Bananen und Äpfeln auf dem Marktplatz entscheiden. Inzwischen müssen sie auf ein Grundbedürfnis verzichten, um ein anderes erfüllen zu können: Entweder schlafen oder die Miete zahlen.

Hyperinflation, nennt sich das. Hyper – das klingt so mächtig und genau so fühlt es sich auch an. Ich telefoniere mit Ayşe Acar Başaran, der frauenpolitischen Sprecherin der türkischen Demokratischen Partei der Völker (HDP). Sie arbeitete die vergangenen zwei Legislaturperioden als Abgeordnete aus der Stadt Batman und wird bei den Wahlen am 14. Mai nicht mehr kandidieren. »Die Rechnung der Wirtschaftskrise tragen vor allem Frauen«, sagt Acar Başaran. »Weil sie ohnehin seit Jahren von der Erwerbsarbeit ferngehalten werden. Sie arbeiten zwar viel, ihre Arbeit wird allerdings nicht honoriert. Und, weil sich Gewalt und Armut gegenseitig nähren.« Ist eine Frau finanziell nicht abgesichert, kann sie sich von einem Umfeld der Gewalt nicht entfernen.

Ich frage sie, welche Bedürfnisse die Frauen äußern, mit denen sie spricht: »Ein freies und gleichberechtigtes Leben. Ein Ende der Armut und der bewaffneten Kämpfe. Frieden und Religionsfreiheit für religiöse Minderheiten«, lautet ihre Antwort. Die Türkei ist aus der Istanbul-Konvention ausgetreten, dem internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. In einem Land, in dem 2022 fast 400 Frauen getötet wurden. So erfasst es jedenfalls die Internetseite anitsayac.com unter Bezug auf Pressemeldungen. Frauen kämpfen hier täglich ums Überleben – und nicht nur Frauen.

»Bald sind die Wahlen«, sage ich zu dem Taxifahrer. Ich will andeuten, dass sich die Lage vielleicht bald verbessert. Denn ich habe Hoffnung. »Was soll schon passieren? Wir haben doch gar keine Freunde«, antwortet er. »Man wählt Politiker*innen nicht, damit sie ihre Freund*innen werden. Man beauftragt sie, ihre Interessen zu vertreten. Dafür haben sie ein hohes Gehalt und mehr Rechte als wir. Wenn sie ihre Arbeit nicht machen, dann muss man sie in die Rechenschaft ziehen«, sage ich. Ich will ihm deutlich machen, dass er die Opposition ist, dass er Macht hat. »Nichts in diesem Land wird ermittelt«, antwortet er. Seine Hoffnungslosigkeit scheint endlos. Und dann sagt er noch etwas, was mich seitdem nicht loslässt: »Was, wenn es unter der neuen Regierung noch schlimmer wird?«

Da ist es: Das Übel, das man kennt. Ich schweige. Die Lage wird sich auch mit einer demokratischeren Regierung nicht über Nacht verbessern. Wie soll ich einem Mann, der auf Schlaf verzichten muss, sagen, dass er noch eine Weile die Zähne zusammenbeißen muss? Er scheint so sicher, dass die Zukunft für ihn nichts Besseres birgt, dass ihm sogar das Versprechen der Verbesserung Angst bereitet. Wie schnell sich Ohnmacht in eine Stimme für den Status quo verwandelt.

»Lebt nicht, sagen sie uns. Sterbt«, sagte mir eine Freundin meiner Mutter, nachdem ihr Vermieter ihre Miete drastisch erhöht hatte. So fühlen sich viele in der Türkei – sie halten sich gerade noch über Wasser, kriegen gerade noch Luft zum Atmen. Egal wo im Land ich bin, zählen Menschen die Tage bis zu den Wahlen am 14. Mai. So etwas habe ich bisher nicht erlebt. Mit Sorge in den Augen, aber auch mit einer Hoffnung, auch wenn sie so fragil ist, dass sie sie nicht einmal aussprechen möchten.

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