Theatertreffen: Kein Name, keine Story

Die Regisseurin Felicitas Brucker stellt mit »Nora« beim Berliner Theatertreffen die Klassenfrage – und verliert sie sofort wieder aus den Augen

  • Dorte Lena Eilers
  • Lesedauer: 6 Min.
Katharina Bach turnt den vielen Noras im Stück regelrecht hinterher.
Katharina Bach turnt den vielen Noras im Stück regelrecht hinterher.

Also passt auf, wir machen es so: Wir laden drei Autorinnen und eine Regisseurin ein, die sich auf einen fast 150 Jahre alten Text eines Mannes stürzen, der über die Emanzipation einer Frau geschrieben hat, und lassen die vier ihre je weibliche Perspektive in das Sujet einarbeiten. Das sagte sich eine Intendantin aus dem deutschen Süden – und prompt wurde die Inszenierung für das Berliner Theatertreffen nominiert. Ein Erfolg, der mit Blick auf das Stück Bände spricht.

In »Nora«, dem ersten Teil eines an den Münchner Kammerspielen ursprünglich mit Edouard Louis’ »Die Freiheit einer Frau« gekoppelten »Double Features«, werfen die Autorinnen Sivan Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic einen textanalytischen Röntgenblick auf Henrik Ibsens Protagonistin Nora. Jene Frau, die sich in der Version ihres Schöpfers in psychologischer Manier Dialog um Dialog aus dem fein gestrickten Netz ihrer bürgerlichen Ehe manövriert.

Die Interpretationsgeschichte dieser Figur auf deutschsprachigen Bühnen ist lang, erstaunlich ähnlich die Varianten ihres Aussehens: Mal trat sie in weißer Gouvernanten-Bluse in Erscheinung (Elisabeth Trissenaar in der Regie von Hans Neuenfels), mal im weißen Business-Dress, das sich – huch, ein BH! – leicht öffnen ließ (Anne Tismer in der Regie von Thomas Ostermeier), mal kam sie als Göre mit Cyndi-Lauper-Frisur daher, ebenfalls (fast) weiß-berockt, wenngleich im Kostüm von Victoria Behr mächtig überdimensioniert (Manja Kuhl in der Regie von Herbert Fritsch).

Auch beim Theatertreffen, so ergab es eine schnelle Recherche im Online-Archiv der Berliner Festspiele, war Nora eine der meistgesehenen und -sezierten Frauenfiguren. Neben den drei genannten Inszenierungen waren noch eine Leander-Haußmann-»Nora« und eine Stephan-Kimmig-»Nora« im Reigen der bemerkenswerten Arbeiten vertreten. Fällt was auf? Nicht weiter schwer: Alle Regisseure waren Männer, die Intendanten der entsendenden Häuser ebenso. Soviel zu den Produktionsbedingungen.

In München nun haben vier, Intendantin Barbara Mundel mitgerechnet, fünf Frauen die neue »Nora« verantwortet. Eine hohe Zahl an Beteiligten, die für eine ebenso hohe Zahl an Perspektiven sorgt. In dem von Bühnenbildnerin Viva Schudt auf die Seite geworfenen Haus von Torvald und Nora Helmer – Fußnote: Hatte Michela Flück nicht für Pınar Karabuluts »Mourning becomes Electra« an der Berliner Volksbühne einen ähnlichen Häusersturz inszeniert? – läuft die Geschichte der ehelichen Zerfleischung in der Regie von Felicitas Brucker als Grundgerüst zunächst ganz klassisch ab. Nora (Katharina Bach) hatte einst ein heimliches Darlehen ausgedealt, mit dem sie ihrem ewig beschäftigten Ehemann Torvald (Edmund Telgenkämper) eine Auszeit finanzieren wollte. Kurz vor Weihnachten nun droht das Geheimnis zu platzen – und mit ihm das ganze hohle Konstrukt einer Ehe, bei der die Frau lediglich auf Platz zwei rangiert.

Immerhin auf Platz zwei, wendet Sivan Ben Yishai ein, die dem ganzen Abend einen rasanten Prolog geschrieben hat, in dem, im Setting einer Leseprobe arrangiert, die Nebenfiguren im Stück revoltieren. Steht Nora, die vermeintlich ewig Unterdrückte, »nur« an zweiter Stelle im Figurenverzeichnis, finden sich weiter unten Charaktere, die es noch nicht einmal zu einem Namen gebracht haben. Der Hausbote etwa (Vincent Redetzki) oder das Hausmädchen (Katharina Schubert), das aus Kostengründen zu allem Elend lediglich als Stimme auftreten darf. Sivan Ben Yishai legt hier klug und spielerisch die Klassenfrage offen, die in »Nora« – siehe Figurenverzeichnis – schon immer schlummerte, aber nie so recht zum Tragen kam. Die Unterdrückte Nora ist zugleich Unterdrückerin, die es für selbstverständlich hält, dass andere zu einem Mindestlohn für sie arbeiten.

Anstatt jedoch dieser scharfsichtigen Analyse eines Wohlstandsfeminismus zu folgen, zerfasert das Stück nach und nach in einer Meditation über die vielen Varianten, die eine Nora heutzutage sein könnte. »Nora mit Kindermädchen. Nora mit Privileg. Nora im Burnout. Nora die sich in den Kopf schießt. Normnora. Negativnora. Yoganora.« Und so weiter. Gesetzt ist diese Wutrede gegen Torvalds unverhohlene Souveränität, welche sich in Sätzen wie »Also pass auf, wir machen es so« manifestiert. Während er, so wirft ihm Nora an den Kopf, ständig damit beschäftigt sei, irgendwer zu sein, könne sie alle Noras sein. Liegt darin die große Befreiungsgeste der Bearbeitung? Oder handelt es sich bloß um einen schweißtreibenden, sich im Ungefähren verlierenden Ansatz?

Katharina Bach jedenfalls ist gezwungen, den vielen Noras im Stück regelrecht hinterherzuturnen. In weißen Leggins und einem Levis-Underwear-Shirt, das Anne Tismers Business-Dress in Sachen Sexyness in nichts nachsteht, arbeitet sie sich wahlweise an der Häuserschrägen oder Torvalds Körper ab, bespringt, umschlängelt, bezirzt mal die Wände, mal ihren Mann, im ständigen Ringen mit ihren Rollen als perfekte Ehefrau, perfekte Mutter, perfekte Konsumentin, perfekte Hausherrin, perfekte Trophy Wife, perfekte Sexpartnerin.

»Das Dogma der Perfektion ist erschöpfend«, heißt es an einer Stelle im Stück. Darauf wäre man nach all dem performativen Aufwand jetzt echt nicht gekommen. Auch der Thriller, der per Untertitel das Stück grundiert, funktioniert als Triebkraft nur verhalten.

Mit tief in die Stirn gezogenen Kapuzen mäandern immer wieder Noras Kinder durchs Bild (Svetlana Belesova, Vincent Redetzki, Thomas Schmauser), Passagen von Ivna Žic vor sich hinmurmelnd, in denen es unter anderem um die gesellschaftspsychologischen Fesseln geht, die es einer Frau verbieten, ihre Kinder zu verlassen. Dazu Lichtgeflacker und dunkle Musik. In diesem Setting ist es einzig Thomas Schmauser, der in seiner rätselhaften, immer auch etwas linkischen Art einen sonderbaren Grusel vermittelt. Auch sein Krogstad, jener Angestellte in Helmers Bankfiliale, der Noras Deal aufzudecken droht, ist eine komplexe Figur, ein Mensch kurz vor dem innerlichen Zerreißen, der sich dennoch trotzig mit allerlei Winkelzügen gegen sein Aussortiertwerden in einer allzu glatten Welt zu wehren versucht. Noras Welt war nur glatt an der Oberfläche.

Trotzdem fahndet man am Ende nicht thriller-, sondern tatortmäßig nach dem eigentlichen Problem. Du »keuchst und faselst was … von Radikalität, dabei ist das Radikalste zu dem du überhaupt imstande bist, mich klein zu halten«, wirft Nora Torvald an den Kopf. Was die Frage aufbringt, warum sie jahrelang im hier ja offensichtlich gemeinten 21. Jahrhundert so passiv blieb und alles geschehen ließ. »Wenn ich du wär«, lässt Gerhild Steinbuch Noras Freundin Kristine Linde sagen, »wär ich alles, dieses ganze Haus wär ich. Und alles hinge von mir ab.« Und ein klein wenig klingt es so, als sagte sie: Also passt auf, wir machen es so. Verlieren uns nicht in Potenzialitäten – sondern entwerfen einen Plan.

Vorstellungen im Rahmen des Theatertreffens: 19. und 20. Mai
www.berlinerfestspiele.de

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