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  • Stefan Zweig: »Die Kunst, ohne Sorgen zu leben«

Stefan Zweig: Angeln hinterm Schafott

Ein neuer Band versammelt Texte von Stefan Zweig, teils bisher unveröffentlicht – es sind Reflexionen über das Anders-Weiterleben

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

»Unsere Zeit hat ein kurzes Gedächtnis«, schreibt Stefan Zweig in »Hartrott und Hitler«. Dieser Aufsatz von Stefan Zweig wurde 1942 posthum im New Yorker Journal »Free World« veröffentlicht. Darin erinnert er sich an ein Buch von Vicente Blasco Ibánez, das er 1916 gelesen hatte. Es hieß »Die apokalyptischen Reiter« und kam ihm damals ziemlich abwegig vor. Nun im brasilianischen Exil nicht mehr.

Die Hauptfigur des Buches, ein deutscher Geschichtsprofessor, ist vom Pan-Germanismus besessen, lebt seinen Fanatismus rücksichtslos aus. Was Zweig damals wie eine Karikatur vorkam, ist ein Vierteljahrhundert später bittere Realität geworden. Hitler hatte Vorgänger, die ebenfalls von der Weltherrschaft träumten – und ebenfalls die Juden zu ihren Hauptfeinden erklärten.  

In seinem letzten Text, den er vor seinem Freitod am 23. Februar 1942 in Petrópolis schrieb, bringt Zweig dies in eine Formulierung, mit der er Hölderlin seine Reverenz erweist. Dieser Roman, über den er damals den Kopf geschüttelt hatte, zeige, »dass es der Dichter ist, der seine Zeit und die Zukunft besser versteht als die Professoren für Politik«.

Stefan Zweig glaubt an die läuternde Kraft von Literatur. Und doch resigniert er schließlich vor dem Übermaß an Barbarei, das aus den Nachrichten spricht, die ihn hier in Brasilien erreichen. Er stirbt ohne Hoffnung, das ist der erschütternde Schlusspunkt unter seiner Biografie. Aber seine Texte verteidigen bis zum Schluss den Humanismus, obwohl es mehr als bloß schlecht um ihn bestellt ist.

Die nun von Klaus Gräbner und Volker Michels erstmals in Buchform herausgegebenen Texte, von denen einige bis heute unveröffentlicht blieben, andere zwischen 1940 und 1942 in amerikanischen Zeitschriften erschienen, sind sämtlich Versuche, seine Leser zum Anders-Weiterleben zu ermutigen. Dass die lang vermissten Aufsätze und Reden nun in diesem schmalen Insel-Bändchen erscheinen, ist ein Glücksfall, befinden wir uns doch in einer Zeit, in der Leser wiederum nach Orientierung suchen, fragen, wie sie sinnvoll leben sollen. Die Utopie, der Zweig anhängt, birgt einen über alle feindlichen Fronten hinweg verbindenden gemeinsamen Geist. Ein Geist, der das Leben achtet.   

Davon zeugen die hier versammelten Miniaturen, in denen Zweig auf kleinstem alltäglichem Raum große Menschheitsfragen durchspielt. Zu Beginn steht »Die Kunst, ohne Sorgen zu leben«. Da gibt es jemanden mitten unter uns, der wie Franz von Assisi im 13. Jahrhundert ein Beispiel gibt, »wie man durch innere Souveränität sich der stärksten Macht dieser Erde, dem Geld, entziehen kann«. Ein unscheinbarer Typ, fast schon ein Landstreicher, einer wie ihn Hermann Hesse im »Knulp« beschrieb. Da braucht jemand erstaunlich wenig, um zufrieden zu sein: Essen und Trinken, etwas zum Anziehen, zum Schlafen ein Dach über dem Kopf und die Freiheit, Herr über seine Zeit zu sein. Sonst nichts? Doch, das Gefühl gebraucht zu werden und anderen helfen zu können, mit dem, was er besser kann als sie.  

Dieser offensichtlich arme Mensch ist in Wahrheit reich. Zweig behandelt ihn hochachtungsvoller als all die angemaßt Bedeutsamen dieser Welt, die Macht und Geld benötigen, um ihre innere Leere zu kompensieren: »Dieser hagere, meist schlecht rasierte, zerschlissene Bursche hatte für seine Person ein neues, durchaus antikapitalistisches System erfunden: Er vertraute auf die Anständigkeit der Menschen.« So hilft er als geschickter Handwerker anderen, aber will kein Geld für seine Dienste. Sagt, er werde zu ihnen kommen, wenn er etwas benötige und nimmt dann die Almosen entgegen wie ein König Gnadenerweise. Oft gibt er sie sofort an andere weiter, die sie dringender brauchen.

Zweig erzählt uns dieses Märchen von einem, der auszog, sorglos ohne Geld zu leben, mit sichtlicher Freude. Er selbst hatte anderes erfahren müssen. Denn man hört in den Augen der Welt zu existieren auf, verliert all seine Würde und Individualität, wenn man kein Geld hat. Und doch glaubt er an den Zauber des wahren Reichtums: »Wenn alle Menschen untereinander dies Geheimnis der Reziprozität des Vertrauens lernten, müsste es keine Polizei geben, keine Gerichte, keine Gefängnisse und kein Geld.«

Von den Nöten des Exils ist auch eine andere Erinnerung geprägt, von der er in »Was mir das Geld bedeutet« berichtet. Ein Beitrag zur »phantastischen Inflation« von 1923, deren monströses Ausmaß Zweig zu spät klar wurde. Denn ahnungslos schickt er seinem Verleger ein Manuskript, an dem er ein Jahr gearbeitet hat, kommt sich sogar sehr klug vor, als er sofort um eine Vorauszahlung auf die ersten zehntausend Exemplare bittet. Die erhält er auch. Doch dann passiert das nicht für möglich Gehaltene: »Während der zehn Tage zwischen dem Eintreffen und dem Einlösen des Schecks wurde der Betrag wertloser als die Briefmarken, die ich für die Postsendung meines Manuskripts gebraucht hatte.«

Dieser Verlust des finanziellen Ertrags von einem Jahr Arbeit bringt ihn dazu, über den trügerischen Wert des Geldes nachzudenken. Das Resümee ist ernüchternd: »Alles, was einmal Geld gewesen war, war jetzt nur noch Papier, auf dem bedeutungslose Zahlen gedruckt waren. Reichtum wurde zu Abfall.« Drei Jahre habe dieser »irrsinnige Totentanz« des Geldes gedauert, bis sich die Währung wieder stabilisierte – wobei sie die kleinen und mittleren Sparguthaben vernichtete, aber den großen auf mysteriöse Weise oft noch starke Gewinne bescherte. Etwa bei denen, die mit Dollars spekulierten. Ein unerfreuliches Thema, von dem Zweig sich mit Ekel abwendet.

Doch was tun als bislang gut situierter Österreicher, der nie zur Askese begabt schien und sich gern mit Kunstgegenständen und Erstausgaben seltener Bücher umgab? Als er sich daran 1941 erinnert, weiß er, dass die damaligen Inflationsverluste nur eine Vorbereitung auf die völlige Entwurzlung waren, die die Emigration für ihn bedeuten sollte. Doch wer nicht um des Geldes willen, sondern für den Geist lebt, hält das aus. Was er nicht aushält, ist die Herrschaft des Ungeistes. Konnte ihm in diesem Sinne nicht auch das Exil in Brasilien zu neuen Einsichten verhelfen? Anfangs gewiss, da sah er mehr Neues, als er Altes vermisste. Denn Zweig ist zwar ein Erfolgsschriftsteller, aber kein saturierter. Er bleibt lange offen für Erfahrungen – und sei es die des eigenen näher rückenden Untergangs.

In »Die Angler an der Seine« denkt er über das Unerhörte in der Geschichte nach und den Gleichmut, mit dem manche Beobachter diesem beiwohnen. So stößt er in der Geschichte der Großen Französischen Revolution auf Details von der Hinrichtung Ludwig XVI. durch die Jakobiner. Während der König vor den Augen des skandallüsternen Publikums aufs Schafott geführt wird, vermerkt ein Chronist am Ufer der Seine einige Angler, die sich überhaupt nicht um das Geschehen kümmern. Sie wenden nicht einmal den Kopf, als die Klinge herniederrast und der Kopf des Guillotinierten in den bereitstehenden Korb fällt. Was ist das? Wahrer Gleichmut der stoischen Angler, die zu gut wissen, was da in ihrem Rücken passiert und die Besseres zu tun haben, als mit den anderen zu gaffen? Sind diese Angler vielleicht innerlich abgestumpft – oder ist das Gegenteil davon der Fall und sie wollen deshalb nicht am schrecklichen Anblick der Exekution teilhaben, weil sie um den letzten Rest ihrer Sensibilität fürchten? Wir wissen es nicht.

Zweig bezieht diese Episode auf das Jahr 1942 und schlussfolgert: »Je länger das Weltdrama vor unseren Blicken dauert, je grauenhafter seine Szenen werden, je aufregender seine Episoden, umso mehr lässt unsere Fähigkeit des innerlichen Miterlebens nach. Das fortwährende Denken an den Krieg zerstört das Denken, und je mehr unsere Zeit an Mitgefühl von uns fordert, umso weniger vermag die schon erschöpfte Seele ihr zu bieten.« 

Stefan Zweig: Die Kunst, ohne Sorgen zu leben. Letzte Aufzeichnungen und Aufrufe. Hg. von Klaus Gräbner und Volker Michels, Insel Verlag, geb., 79 S., 14 €.

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