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Gegen Erdogans Regime ist Druck von unten nötig
Eine sozialistische Perspektive auf die Ergebnisse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei vom 14. Mai
Vor den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai bestanden große Hoffnungen, dass die 20-jährige Herrschaft der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zu Ende gehen würde. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht: Die AKP erhielt bei den Parlamentswahlen 35,58 Prozent der Stimmen und wurde einmal mehr die stärkste Partei. Die mit der AKP verbündete ultranationalistische MHP erhielt 10,07 Prozent und die islamistische Partei Yeniden Refah Partisi (YRP) 2,81 Prozent – somit konnte die rechte Allianz beinahe 50 Prozent der Stimmen für sich gewinnen. Das bedeutet, dass ein gewichtiger Teil derjenigen, die die AKP nicht mehr gewählt haben, ihre Stimme den noch weiter rechtsstehenden Parteien gaben.
Auf der anderen Seite konnte die sozialdemokratische CHP ihren Stimmenanteil bei 25,33 Prozent halten; ihre oppositionelle Millet-Allianz erreichte 35,02 Prozent. Die linke Allianz für Arbeit und Freiheit, die aus der kurdischen Bewegung und aus Sozialist*innen bestand, konnte 10,55 Prozent der Stimmen erreichen und entsendet nun 65 Abgeordnete ins Parlament.
Zeynep Oz ist in der Türkei aufgewachsen und hat dort Politikwissenschaften und Medien- und Kulturwissenschaften studiert. Sie ist seit mehr als zehn Jahren politisch aktiv und lebt derzeit in Wien. Jannis Oz wuchs in Deutschland und der Schweiz auf und studierte Politikwissenschaft in Wien. Der hier veröffentlichte Text ist die aktualisierte Fassung einer Analyse, die zuerst im Schweizer Online-Magazin »Untergrundblättle« erschien.
Bei der gleichzeitig stattgefundenen Wahl des Staatspräsidenten holte Recep Tayyip Erdoğan 49,52 Prozent der Stimmen, der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu 44,88 Prozent. Keiner konnte die absolute Mehrheit, weshalb die Präsidentschaftswahlen am 28. Mai in eine zweite Runde gehen. Die Chancen, dass Erdoğan doch noch abgelöst wird, stehen nach dem ersten Wahlgang nicht gut, es ist aber nicht ausgeschlossen: In der Türkei wird gegenwärtig viel über die letzten Wahlen in Brasilien diskutiert, bei denen sich der progressive Lula in der Stichwahl gegen den faschistischen Bolsonaro durchsetzen konnte. Der Unterschied allerdings: In Brasilien ist die Arbeiter*innenklasse wesentlich stärker organisiert als in der Türkei, zudem war Lula im ersten Wahlgang bereits stärker als Bolsonaro.
Das Regime in der Türkei wird in der Politikwissenschaft zumeist als ein kompetitives autoritäres Regime beschrieben. Das bedeutet: Es wird angenommen, dass noch die Möglichkeit besteht, mit Wahlen die Regierung abzulösen – wenn auch unter sehr schwierigen Bedingungen. In der Türkei nutzt die AKP ihre Kontrolle über staatliche Ressourcen, die Medien und den Gewaltapparat für sich, faire Bedingungen sind also keinesfalls gegeben. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage war die Hoffnung vieler Menschen in der Türkei groß, dass die kommenden Wahlen eine Veränderung bringen würden. Die Sozialist*innen hingegen beteiligten sich aus einem anderen Blickwinkel an den Wahldebatten. Für sie waren die Wahlen am 14. Mai weder die letzte Chance noch ist das Parlament für sie die letzte Bastion der Demokratie. Werfen wir einen Blick darauf, welche Art von Debatten außerhalb des politischen Mainstreams geführt werden.
Selahattin Demirtaş, der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, befindet sich seit November 2016 im Gefängnis. Die kurdische Bewegung spricht davon, dass er als Geisel festgehalten wird. Er hielt vor den Parlamentswahlen 2015 die folgende, als historisch angesehene Rede, welche auch heute noch großen Einfluss hat. Darin sagte er: »Herr Recep Tayyip Erdoğan, solange die HDP existiert, solange HDP-Mitglieder in diesem Land atmen, werden Sie nicht Präsident werden. Herr Recep Tayyip Erdoğan, wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen. Wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen. Wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen.«
Selahattin Demirtaş‘ Versprechen »Wir werden Sie nicht zum Präsidenten machen« konnte zunächst erreicht werden: Die AKP erhielt bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 nur 40,7 Prozent der Stimmen und erreichte damit nicht die 276 Sitze, die für eine Regierungsbildung im Alleingang erforderlich gewesen wären. Dieser Sieg wäre für die AKP von entscheidender Bedeutung gewesen, um ihren Plan zur Einführung eines Präsidialsystems, das das Parlament weitgehend aushebelt, durchzusetzen.
Auch bei der aktuellen Wahl waren es die kurdischen und linken Stimmen, die einen Sieg Erdoğans im ersten Wahlgang verhindert haben. In Diyarbakir, der größten Stadt der kurdischen Gebiete in der Türkei, konnte Kılıçdaroğlu 71,96 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Allerdings verfehlte die HDP ihr Ziel, mehr Parlamentsabgeordnete entsenden zu können und die 10,55 Prozent für die linke »Allianz für Arbeit und Freiheit« werden generell als eine Niederlage eingeschätzt. Dennoch, gemessen an der massiven staatlichen Repression, der Versuche, die Partei zu verbieten, der Beschlagnahmung ihres Budgets usw. ist das Ergebnis beachtlich und zeigt, dass eine linke Kraft unter besseren Bedingungen weiteres Potenzial hätte.
Mit der seit den letzten Jahren sich immer mehr zuspitzenden ökonomischen Krise wurde deutlich, dass der neoliberale Kapitalismus in der Türkei nicht funktioniert, nicht einmal für die Oligarchie selbst. Die unteren Klassen versinken in immer extremerer Armut. Es war demnach ohnehin fraglich, ob eine andere Regierung, auch wenn sie eine Rückkehr zur Demokratie bedeutet hätte, eine wesentliche Verbesserung der ökonomischen Situation hätte erreichen können. Die Strategie der sozialistischen Organisationen war daher stets, die unteren Schichten der Gesellschaft mit in den Umbau von Staat und Gesellschaft einzubeziehen. In anderen Worten: Es muss ein Druck aufgebaut werden, der von der Basis ausgeht, um das autoritäre Regime zu überwinden.
Um ein Beispiel aus der heutigen Situation zu geben: In den Erdbebengebieten waren die sozialistischen Organisationen vom ersten Tag an für die Bevölkerung zur Stelle, um mit aller Kraft solidarisch Hilfe zu organisieren. Der Staat hingegen war teilweise tagelang nicht vor Ort. Die Bevölkerung wurde sich selbst überlassen. Diese Praxis der Solidarität, die sich in den Erdbebengebieten entwickelte, ist ein Ausgangspunkt für die Selbstorganisation der Menschen.
Sozialistische Organisationen aus der ganzen Türkei haben ihre Mitglieder in die betroffenen Regionen entsandt, um ihre Solidarität zu zeigen. Die staatlichen Kräfte versuchten nach einer Woche, die linken Organisationen mit Polizeikräften aus der Region zu vertreiben, doch die Bevölkerung verteidigte diese – weil sie ihnen in ihrer schwierigen Lage beigestanden haben. Sie entgegneten den Vertretern des Staates: »Wo wart ihr die letzten Tage, es waren zehn Tage – diese Menschen waren von Anfang an bei uns!« Auch jetzt noch sind die Sozialisten in der Region, in den Zeltstädten bauen sie gemeinsam mit den Bewohnern das soziale Leben wieder auf: Sie kochen zusammen, sie organisieren Aktivitäten für die Kinder, sie unterstützen sich mit Gesprächen usw.
Trotz des Verlustes an Legitimität des Staates in der Erdbebenregion und der Wut der Bevölkerung konnte Erdoğan auch dort viele Stimmen für sich gewinnen. Generell war die AKP insbesondere in ländlichen und armen Regionen stark. Dies zeigt einmal mehr: Das Wahlverhalten kann nicht nur durch ökonomische Faktoren erklärt werden. Auch wenn viele Menschen sich über die ökonomische Situation beschweren, folgen sie der bestehenden Macht, die ihnen Stabilität verspricht, wenn sie keine starke Alternative sehen, die den Führungsanspruch stellt. Sozialistische Kräfte müssen diese alternative Macht in langfristiger Arbeit von unten aufbauen, indem sie z.B. mit Volksversammlungen und Arbeiter*innen-Räten ein starkes Band mit den unteren Klassen knüpfen.
Zudem ist es wichtig zu sehen, dass sich der politische Kampf über ein komplexes Verhältnis von Verstand, Willen und Ethik formt. Er kann nicht wie eine mathematische Formel berechnet werden und Wahlergebnisse sollten nicht zum Anlass genommen werden, ein eindimensionales Bild der Menschen zu zeichnen. In diesem Sinne verurteilen Sozialist*innen die Wähler*innen nicht für ihre Wahlentscheidung und sehen sie nicht als ignorant an, wie es manche Liberale tun. Wahlentscheidungen können nicht als rein individuelle Entscheidung gesehen werden, sie sind vielmehr Ausdruck der Dominanz eines nationalistischen Diskurses, mit dem es gelungen ist, die Massen zu mobilisieren. Dieses künstliche Gleichgewicht zwischen der Bevölkerung und dem Staat, um es mit den Worten des türkischen Revolutionärs Mahir Çayan zu sagen, muss gebrochen werden. Dieser Bruch ist zugleich ein Moment und ein Prozess, er folgt aus dem Aufbau einer Gegenmacht von unten.
Die türkische Linke hat ein starkes historisches Erbe, doch sie braucht neue Strategien, um in der gegenwärtigen Periode an Boden zu gewinnen. Mit einer starken Einheit, wenn Sozialist*innen wieder in die Fabriken und armen Viertel im Land gehen und dort die Menschen organisieren, können sie auch wieder einen stärkeren Druck auf die CHP aufbauen. Denn das erste Statement Kılıçdaroğlus nach der Wahl zeigt, wie sehr auch er auf dem Boden des nationalistischen Diskurses agiert: Der Schwerpunkt seiner Rede lag auf Patriotismus, »Antiterrorismus« und Ressentiments gegen Flüchtlinge und Migrant*innen.
Aus den genannten Punkten stellen sich für die Linke in der Türkei folgende Fragen:
Falls Erdoğan wie erwartet im zweiten Wahlgang gewinnen würde – wie kann eine Front gegen das autoritäre und von faschistischen Elementen geprägte Regime gebildet werden? Umgekehrt, wenn die Opposition gewinnt und ein neuer, progressiverer Präsident regieren wird: Wie kann die Situation genutzt werden, um Räume für den Kampf für den Sozialismus zu eröffnen? Wie können die Friedensverhandlungen zwischen der neuen Regierung und der kurdischen Bewegung gestalten werden? Wie kann der Rassismus gestoppt werden, der die letzten Jahre um sich gegriffen hat? Wie können Femizide verhindert und wie die Unterdrückung von LGBTQ+-Personen beendet werden? Wie kann die Welle von Selbstmorden aufgrund von Armut gestoppt werden? Wir brauchen einen umfassenden Prozess der Abrechnung mit dem geschehenen Unrecht, einen neuen gesellschaftlichen common-sense und darauffolgend eine gesellschaftliche Versöhnung. In all diesen Aspekten würde die sozialistische Bewegung eine entscheidende Rolle einnehmen.
Wird diese Regierung, die so viele Verbrechen gegen ihr Volk begangen hat, dass sie sich eine Niederlage nicht leisten kann, die Ergebnisse der Wahlen friedlich akzeptieren, falls sie bei der Präsidentenwahl verlieren sollte? Wenn nicht, wie werden sich die Kräfte des Volkes, die in den letzten zehn Jahren durch eine autoritäre und faschistisch orientierte politische Macht zunehmend desorganisiert und geschwächt wurden, gegen sie mobilisieren?
Die türkischen Wahlen des Jahres 2023 erinnern uns an diese schwierigen Fragen und zwingen uns, nach Antworten zu suchen.
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