Kriminalisierung der Letzten Generation schadet der Demokratie

Statt Klimaproteste zu kriminalisieren, sollten Volksentscheide auf Bundesebene ermöglicht werden, fordert Linke-Politiker Sebastian Schlüsselburg

  • Sebastian Schlüsselburg
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit über einem Jahr protestieren die Klimaaktivist*innen der Letzten Generation auf den Straßen Berlins. Angesichts der sich zuspitzenden Klimakrise erachten sie Umfang und Reichweite der Klimaschutzmaßnahmen der Ampel-Regierung als unzureichend. Sie fordern unter anderen ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen und die Einberufung eines »Gesellschaftsrates«, der Maßnahmen erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe beendet. Um diesen Positionen Nachdruck und Aufmerksamkeit zu verleihen, führen die Aktivist*innen insbesondere Sitzblockaden auf Straßen und Autobahnen durch. Die Aktionen werden professionell geplant und koordiniert. Strafrechtliche Verfahren und Verurteilungen werden bewusst in Kauf genommen.

Seitdem ist der gesellschaftliche und politische Umgang mit der Letzten Generation in einer fast schon rituellen Art und Weise stetig eskaliert. So ist auf der einen Seite die Kriminalisierung der Aktivist*innen und des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit zu beobachten. Den Aktionen wird nicht nur von den Stammtischen, sondern auch von SPD-Innensenatorin Iris Spranger und FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann pauschal die Versammlungseigenschaft abgesprochen. Die Sitzblockaden seien ausnahmslos Nötigungen und müssten mit aller strafrechtlichen Härte verfolgt werden.

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Um sogenannte Wiederholungstaten zu vermeiden, wird seitens der Polizei beantragt, die Demonstrant*innen in Präventivhaft zu nehmen. Der neue CDU-Senatschef Kai Wegner stellt in Aussicht, jene Präventivhaft von derzeit 48 Stunden auf fünf Tage zu verlängern. Und das Landgericht Potsdam hat sogar den Versuch unternommen, die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung einzustufen.

Auf der anderen Seite betonen die Berliner Staatsanwaltschaft und die ehemalige Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) zu Recht, dass die Proteste im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes grundsätzlich Versammlungen im Sinne von Artikel 8 des Grundgesetzes sind. Denn der Grundrechtsschutz »ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden«.

Bei einer Versammlung, heißt es hier weiter, gehe es darum, »dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen«. Deswegen ist in jedem Einzelfall von den Gerichten genau zu prüfen, ab wann die Blockaden als strafrechtliche Nötigung zu behandeln sind. Dafür muss wegen des besonderen Grundrechtsschutzes in jedem konkreten Fall die Verwerflichkeit der Blockaden festgestellt werden. Am Ende wird diese Frage sicherlich nicht von den Strafgerichten, sondern von den Verfassungsgerichten entschieden werden.

Diese Eskalationsspirale muss durchbrochen werden. Zum einen droht zumindest in Teilen der Gesellschaft der Rückhalt für eine schnelle Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen zu schwinden und zugleich eine Vertiefung der Spaltung zwischen Modernisierungsskeptiker*innen und -befürworter*innen. Zum anderen geraten die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit unter Druck. Das schadet der Demokratie.

Ich schlage vor, das Grundgesetz zu ändern und auf Bundesebene direkte Demokratie zu ermöglichen. Denn im Bund haben die Bürger*innen zwischen den Wahlen nur begrenzten Einfluss auf politische Entscheidungen. Ihnen verbleibt daher vor allem die kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit. Diese trägt dazu bei, das Defizit an politischer Einflussnahme gegenüber Lobbyist*innen und den Massenmedien zu kompensieren.

Anders ausgedrückt: Weil die Union und die Ampel-Koalition keine Volksentscheide zulassen, werden die Aktivist*innen faktisch zu provokanten Demonstrationen gezwungen.

Wenn die Möglichkeit eröffnet würde, für ein Volksentscheid-Gesetz für ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen zu sammeln, würden wir in eine konstruktive gesellschaftliche Debatte eintreten. Denn vermutlich lassen sich mehr Unterschriften in Parks und Fußgängerzonen sammeln als an Autotüren während einer Blockadeaktion.

Wenn man bei den Volksentscheiden dann noch der Bundestagsmehrheit ermöglicht, einen alternativen Gesetzentwurf zum selben Thema zur Abstimmung zu stellen, etwa ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern, sehe ich, außer ideologischen Scheuklappen, keinen Grund mehr für Union und Ampel, hier zu blockieren.

Sebastian Schlüsselburg ist Jurist und Sprecher für Rechts- und Verfassungspolitik der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus.

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