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Nachhaltigkeit im Radsport: Auf Löwenzahn den Giro fahren
Beim Giro E fahren Radsportenthusiasten auf den Strecken der Profis und werben für E-Mobilität
Hunderte Radsportenthusiasten machten sich am Donnerstag auf ins Skigebiet von Val di Zoldo. Die 18. Etappe des Giro d’Italia wurde dort ausgetragen. Mit Rennrädern aus ganz verschiedenen Epochen waren sie unterwegs. Viele keuchten, als die Straße sich dem Ziel zugehend immer steiler nach oben wand. Und sie staunten nicht schlecht, als plötzlich ein mehr als hundertköpfiges Peloton an ihnen vorbeizog, das aus Leuten wie ihnen bestand – keine Profis, die aber trotz des vergleichsweise hohen Tempos kaum Zeichen von Erschöpfung zeigten. Die Erstaunten wurden Zeugen des rauschenden Giro E.
Das E-Bike-Rennen wurde erstmals 2019 ausgetragen. »Nachdem wir die ersten Rennen der Formel E, der elektrifizierten Variante der Formel 1, gesehen haben und es auch die ersten Rennräder mit Motorunterstützung gab, haben wir überlegt, dass es auch eine Veranstaltung des Giro d’Italia mit E-Rennrädern geben sollte«, erzählt Roberto Salvador »nd«. Salvador war Jahre lang Logistik-Chef des traditionellen Giro. Er kennt sich aus mit Dingen, die im rechten Moment an den rechten Ort transportiert werden müssen.
Salvador hat auch ein Interesse daran, dass dies alles nachhaltig passiert. Bei einem Rennen, in dem zur Zeit 126 Ausdauersportler von einem Vielfachen an Pkws, Lastwagen und Teambussen begleitet werden, ist das mit der Nachhaltigkeit nicht einfach. Aber der Wille ist da. Und der Giro E kann als Katalysator wirken. »Wir versuchen zum einen, die Bevölkerung zur E-Mobilität zu ermuntern, zum Nutzen von Elektro-Rädern auch für die alltäglichen Erledigungen. Als Organisation nutzen wir auch Autos mit Elektroantrieb. Und wir verfolgen einige Initiativen zur Verwendung nachhaltiger Materialien«, erklärt Salvador. So besteht das Startvillage aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz. »Wir setzen auch Solarpaneele ein. Und die Medaillen, die verliehen werden, sind aus Altmetall.«
Medaillen – das klingt nach einer Bagatelle. Aber wenn man sich die Siegerehrungen beim Giro E anschaut, dann kommt schon eine ganze Menge zusammen. Gleich sieben Wertungstrikots gibt es, fast doppelt so viel wie beim klassischen Giro. Statistisch gesehen hat wohl fast jeder Teilnehmer die Chance, mal auf dem Podest zu stehen. Es handelt sich dabei um das Siegerpodium des Giro d’Italia. Dort, wo etwa eine Stunde später Geraint Thomas, Joao Almeida oder der neue italienische Sprintgott Jonathan Milan Prosecco verspritzen, werden im Rahmen des Giro E Amateure gefeiert. »Das ist das Reizvolle des Giro E. Die Teilnehmer lernen den Giro d’Italia von innen kennen. Sie fahren auf den Straßen des Giro, alles ist für sie schon abgesperrt. Und Fans stehen auch an der Strecke«, erzählt Davide Cassani »nd«.
Cassani war früher Profi, 800 000 Kilometer hat er nach eigener Rechnung auf dem Rennrad absolviert. Später wurde er italienischer Nationaltrainer im Straßenradsport. Jetzt radelt er beim Giro E mit. Dem Elektrorad gesteht er geradezu gesellschaftsveränderndes Potenzial zu: »E-Bikes erlauben dir, die ganz heftigen Erschöpfungsmomente zu vermeiden. Du kannst dich anstrengen und dabei die für dich richtige Belastung wählen. Du kannst auch die Landschaft genießen. Und mit dem E-Bike können normale Menschen gemeinsam mit Leistungssportlern fahren.« Beim Giro E achtet er als Kapitän von einem der 17 Teams darauf, dass seine Schützlinge vor allem bei den Sonderprüfungen gut aussehen. Das sind meist Gleichmäßigkeitswettbewerbe, in denen alle dasselbe Tempo fahren müssen.
Die Teams tragen Firmennamen wie Toyoto, Trenitalia, Continental oder CNH Industrial. Es sind Firmen, die die Geschäftsfelder von E-Mobilität und alternativer Energieerzeugung für sich entdecken. »Teilnehmer sind vor allem Radsportenthusiasten, die teilweise bei uns in der Firma arbeiten, teilweise aber auch Geschäftspartner sind«, erzählt Giorgio Cattaneo, Sprecher von Continental, »nd«. Bei Team Trenitalia findet man echte Lokführer und Schaffner, wie Gerhard Rauch berichtet. Er dirigiert im Alltag eine Lok mit 6 Megawatt Leistung, beim Giro E ist er mit großer Freude auf E-Motoren unterwegs, die auf 25 km/h gedrosselt sind.
Ein Nachhaltigkeitsclou von Continental, der auch von manchen Teams eingesetzt wird, ist ein Reifen aus Löwenzahnkautschuk. »Ingenieure aus Hannover haben das entwickelt. Der Löwenzahnkautschuk hat ähnliche Eigenschaften wie Gummi. Wir entwickeln das derzeit für Fahrradreifen, aber auch für Autos«, sagt Cattaneo. Auch einige WorldTour-Teams im Profiradsport wie etwa Ineos Grenadiers nutzen Reifen aus diesem Material. Ob Geraint Thomas, der Mann im Rosa Trikot, derzeit auf Löwenzahn unterwegs ist, war aber nicht herauszubekommen.
Bis zur Serienfertigung ist es auch noch ein weiter Weg. Im vergangenen Jahr schloss Continental eine Partnerschaft mit der Kartoffelzucht-Firma Böhm ab, die jetzt großflächig das auch als Pusteblume bekannte Unkraut anbauen wird. So wirkt der Giro E sogar nach Deutschland zurück. In Italien ist der Giro E auch deshalb prominent, weil bekannte Sportler mitmachen. Der frühere Giro d’Italia-Sieger Damiano Cunego ist Kapitän eines Teams, der ehemalige Top-Sprinter Daniele Bennati fuhr auch mal mit. Sie genießen es, auf ihrer einstigen Bühne mal wieder eine nette Nebenrolle spielen zu können.
E-Mobilität ist ja auch ganz apart – wenn da nur nicht die vielen zusätzlichen Begleitfahrzeuge von Polizeieskorte über Materialwagen bis zu den Motorrad-Fotografen wären. Und gar nicht zu reden von den Transferstrecken, die nicht auf dem E-Bike, sondern mit Autos zurückgelegt werden. Dennoch, es ist ein interessanter Ableger, den die Giro-Organisatoren entwickeln. Er gibt Radsport-Interessierten die Möglichkeit, sich selbst auf den Giro-Strecken zu bewegen. Er wirbt für Nachhaltigkeit im Alltag. Und er verbreitet positive Stimmung. Das ist nicht wenig heutzutage.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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