Belarus: »Ferienlager« bei Diktator Lukaschenko

Über 2000 Kinder aus den besetzten Gebieten der Ukraine wurden seit Kriegsbeginn nach Belarus gebracht

  • Ardy Beld
  • Lesedauer: 5 Min.
Ankunft in Minsk: Belarus behauptet Wohltäter zu sein, doch die Kinder sollen Teil der »russischen Welt« werden.
Ankunft in Minsk: Belarus behauptet Wohltäter zu sein, doch die Kinder sollen Teil der »russischen Welt« werden.

Ohne Alexander Lukaschenko wäre der russische Überfall auf die Ukraine vor 15 Monaten kaum möglich gewesen. Im Februar 2022 stellte der belarussische Diktator, der nahezu völlig abhängig von Russland und seinem Präsidenten Wladimir Putin ist, sein Land für den Einmarsch der Kremltruppen in die Ukraine zur Verfügung. An den Kampfhandlungen hat sich Lukaschenko noch nicht direkt beteiligt, wohl aber an den Verbrechen, die Russland während des Krieges begangen hat.

Seit September 2022 wurden 2150 ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten in sogenannte Gesundheitslager nach Belarus geschickt. Das geht aus einem vorläufigen Bericht hervor, den das National Anti Crisis Management (NAM), ein Zusammenschluss der belarussischen Opposition im Exil, vor Kurzem vorgestellt hat. Verantwortlich dafür laut NAM: die Organisation Delfiny unter der Leitung von Olga Wolkowa aus Donezk, die Stiftung des belarussischen Paralympics-Teilnehmers Alexej Talai und Staatschef Alexander Lukaschenko.

Lukaschenko finanziere die »Reisen« der Kinder aus der Ukraine, sagt der ehemalige Diplomat und heutige Leiter des NAM, Pawel Latuschko. Als Vorsitzender des belarussisch-russischen Unionsstaat hat der Diktator, der die Ukraine als »etwas Persönliches« bezeichnet, die Gelder freigegeben.

Drehscheibe Donezk

Donezk, so zeigt es der NAM-Bericht, ist die Drehscheibe für die ukrainischen Kinder, die aus den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie den im vergangenen Jahr annektierten Gebieten Cherson und Saporischschja stammen. Von dort geht es über Rostow am Don in Südrussland mit dem Zug nach Minsk. Von der belorussischen Hauptstadt aus werden die Kinder in drei Lager gebracht: Dubrawa, das dem größten Staatsunternehmen Belaruskali gehört, die Kinderklinik Astraschyzkij Haradok (beide in der Region Minsk) und das Sanatorium Solotyje Peski bei Homel im Südosten von Belarus. Im Durchschnitt bleiben die Kinder 18 Tage dort.

Wolkowa und Talaj bemühen sich, die Lageraufenthalte als wohltätigen Akt darzustellen, der die Kinder aus dem Krieg holt, die dort womöglich sogar ihre Eltern verloren haben. »Jedes von (den Kindern) lebt in schwer verwüsteten Gebieten. Die Kinder wissen, wann eine Bombe kommt, auch ohne Pfeifgeräusch. Sie wissen, welches Kaliber fliegt. Ich habe einen Dreijährigen, der jedes Mal, wenn die Bombardierung beginnt, sagt ›Krieg, schon wieder Krieg‹«, sagte Wolkowa der staatlichen Nachrichtenagentur Belta. Auch Talaj inszeniert sich gegenüber der Staatsagentur als Wohltäter, der vor allem Kindern mit Beeinträchtigungen helfen will. Das sei allerdings Augenwischerei, ist die ehemalige politische Gefangene Natallia Herrsche überzeugt. Um Talaj habe das Regime eine besondere Legende geschaffen, sagt sie. Der Paralympionik verlor als 16-Jähriger seine Gliedmaßen, als er beim Stehlen von Kabeln einen Stromschlag erlitt. Die Propaganda zimmerte daraus eine Heldengeschichte, in der Talaj mit anderen Kindern im Wald eine Bombe fand und sich auf sie warf, um die anderen zu schützen. »Seitdem gehört er zu den treuesten Anhängern des Regimes und tourt als sogenannter Motivationstrainer für Lukaschenko durch das Land«, erklärt Herrsche.

Ideologie für die Kinder

Wolkowa und Talaj sorgen dafür, dass die Minderjährigen aus der Ukraine neben ihren Kuren auch ein strenges ideologisches Programm durchlaufen. Mit Gesang und Tanz werden ihnen die Grundsätze der »russischen Welt« vermittelt. Nach einem Auftritt im Kinderkrankenhaus Astraschyzkij Haradok Ende April erklärte einer der Musiker des russischen Folklore-Ensembles Babkiny wnuki (Omas Enkel): »Ein Mensch sollte keine Angst vor Tod, Hunger oder Armut haben. Der Mensch sollte nur Angst davor haben, seine Seele zu verlieren. Um seine Seele zu retten, muss man ständig mit Gott sprechen. Und das ist es, was unser heiliges Russland tut. Es gibt einen gottlosen Kampf, der vom Westen ausgeht. Und darin sind wir eins mit Gott. Und wer gegen Gott ist, ist gegen uns.«

Auch die forcierte Liebe zu Belarus und seinem Diktator kommt nicht zu kurz. In einem Video schwenkt eine Gruppe von Kindern vor dem Eingang von Dubrawa die belarussische Flagge und ruft im Chor: »Danke Belaruskali, danke Belarus, für die großartigen Geschenke!« Außerdem werden die Kinder, die zwischen 6 und 15 sind, in den »Gesundheitslagern« von lokalen patriotischen Jugendorganisationen im Umgang mit Waffen geschult. Ein »besonderes Highlight« sind Besuche beim Eishockey, dem Lieblingsport des Diktators. In einer Fernsehsendung berichtete Wolkowa, wie sie mit Kindern beim Spiel des Präsidenten auf der Tribüne saß: »Und plötzlich war er da, ein echter Riese. Die Kinder flüsterten: ›Lukaschenko ...‹ Ich sagte: ›Wenn ihr euch gut benehmt, dürfen wir vielleicht öfter hierherkommen, dann sehen wir ihn bestimmt wieder.‹«

Beweise an die Ukraine übergeben

Die Zwangsevakuierung von Zivilisten im Krieg verstößt gegen Völkerrecht, wenn die evakuierende Partei der Verursacher der humanitären Krise in einem Gebiet ist. Genau aus diesem Grund hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag am 17. März 2023 zu Recht Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen. »Die dokumentierten Beweise für diese Praxis entsprechen der internationalen Definition von Völkermord«, schrieb auch der Europarat in seinem Kommuniqué vom 28. April 2023 und forderte die Rückführung der Kinder.

Belarus ist bisher nicht in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Doch das NAM sieht eine solide Rechtsgrundlage für die Verhaftung von Wolkowa, Talaj und Lukaschenko. Zumal Belarus auch weiterhin Kinder aus der Ukraine holen will. Die Beweise wurden an Den Haag und Kiew übergeben, sagt Latuschko. In der Ukraine will man jetzt Untersuchungen zur Rolle von Belarus bei der Entführung von Kindern aus den besetzten Gebieten aufnehmen, verkündete die Generalstaatsanwaltschaft am Dienstag.

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