Alle für Erdoğan?

Über das Wahlverhalten von Deutschtürken bei der Präsidentschaftswahl wurde viel diskutiert. Eine Bestandsaufnahme

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 6 Min.

Auf der Wahlparty der linken Yeşil Sol Parti (YSP) in Berlin-Kreuzberg herrschte am Abend des 14. Mai Ratlosigkeit. Nach der ersten Runde der Türkei-Wahl an diesem Tag stand zwar fest, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die absolute Mehrheit nicht erreicht hatte. Allerdings war jedoch sowohl das Ergebnis seines Herausforderers und Oppositionsführers Kemal Kılıçdaroğlu von der rechts-sozialdemokratischen CHP als auch das Ergebnis der YSP selbst – acht Prozent – schlechter als erwartet ausgefallen. Da bei der Wahl kein Kandidat die erforderlichen 50 Prozent erreichte, findet nun am 28. Mai eine Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu statt.

Einen bedeutenden Faktor bei dieser Wahl werden auch die in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger*innen spielen. Für die Stichwahl waren sie in Deutschland bereits vom 20. bis zum 24. Mai dazu aufgerufen, sich zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten zu entscheiden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan die Stichwahl gewinnt, ist groß.

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Auch die in Deutschland lebenden Türk*innen wählten mehrheitlich den Amtsinhaber. Am 14. Mai stimmten 65,5 Prozent der zur Wahl gegangenen Menschen für Erdoğan, 32,5 Prozent für Kılıçdaroğlu. Das stärkste Ergebnis erreichte Erdoğan in Essen mit 77,6 Prozent sowie in Kassel mit 71,3 Prozent der Stimmen. Oppositionsführer Kılıçdaroğlu fuhr mit 48,8 Prozent der Stimmen in Berlin sein bestes Ergebnis ein, in Hamburg erhielt er 38,9 Prozent.

Seitdem steht die Frage im Raum, warum so viele Deutschtürk*innen für Erdoğan gestimmt haben. Klischees von Integrationsverweigerern, Parallelgesellschaften sowie konservativen Gastarbeiterkindern, die in Deutschland Freiheit und Demokratie genießen, jedoch gleichzeitig in der Türkei Erdoğans Autoritarismus unterstützen, geistern durch die Kommentarspalten der Republik.

Dem widerspricht Dr. Özgür Özvatan. Er ist Gesellschaftsforscher und Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin und berichtet zunächst von der Datenlage: Rund 3,4 Millionen Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte leben in Deutschland – also solche, die aus der Türkei eingewandert sind oder türkische Eltern haben. Von diesen ist aber nur knapp die Hälfte, rund 1,5 Millionen Menschen, überhaupt wahlberechtigt. Von ihnen wiederum haben nur 49 Prozent an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen teilgenommen. Davon haben fast zwei Drittel für den amtierenden Präsidenten gestimmt: Von 730 000 Wahlteilnehmenden stimmten also 475 000 Deutschtürk*innen für Erdoğan – von über drei Millionen Menschen. »Über die deutschtürkische Community kann man allein aufgrund des Abstimmungsverhaltens somit belastbar und repräsentativ wenig aussagen«, so Özvatan.

Doch wie setzt sich die Gruppe der Nichtwähler*innen zusammen? Die einen sind zu jung, die anderen haben keinen türkischen Pass mehr. Wer aber gibt seinen Pass ab? »Darunter sind sicher nicht allzu wenige Regierungskritiker in der Diaspora, die somit unbeschwerter in die Türkei ein- und ausreisen können«, erklärt Özvatan weiter. »Nationalisten hingegen behalten ihren Pass eher und nehmen somit viel eher an den Wahlen teil und beeinflussen das Ergebnis dahingehend.«

Erdoğan und seine AKP stehen für eine spezifische Ideologie, und diese Ideologie hat Anhänger*innen – auch in Deutschland. Auch hier gibt es überzeugte rechtskonservative Muslime, die den politischen Islam unterstützen sowie türkische Nationalist*innen. Diese erhalten in Deutschland Unterstützung durch Wahlkampfveranstaltungen des AKP-Lobbyvereins UID (Union Internationaler Demokraten). Erdoğan hat seinen Wahlkampf in Deutschland früh begonnen und intensiv und effektiv geführt. Zwar verzichteten er und andere hochrangige AKP-Politiker*innen auf Auftritte in Deutschland, jedoch gelang es ihm, etwa über die großen Moscheeverbände Ditib und IGMG (Milli Görüs) Einfluss zu nehmen. Bis heute wird in Ditib-Moscheen zur Wahl Erdoğans aufgerufen, die Organisation hat für ihre Mitglieder Busse zu den Konsulaten organisiert, damit sie dort wählen.

Özgür Özvatan sieht die Moscheeverbände jedoch differenzierter: »Wenn man sich nur auf die ›faulen Äpfel‹ darunter konzentriert, macht man die Gruppe der Erdoğan-Anhänger in Deutschland größer, als sie ist.« Wer die Moscheeverbände pauschal und einseitig verurteilt, treibt sie nur noch mehr in Erdoğans Arme und entfernt sie von den Inhalten der Opposition, ist sich der Soziologe sicher. »Zweifellos werden in manchen Gemeinden problematische Inhalte verbreitet. Gleichzeitig sind sie ein wichtiger Ort der muslimischen Zivilgesellschaft, die wertvolle Community-Arbeit leisten, dort, wo sich der Staat zurückgezogen hat«, so Özvatan. Somit sind sie für viele Deutschtürken ein positiver Bezugspunkt.

Zudem unterstützen viele die AKP, da die Partei den Deutschtürk*innen in den letzten Jahren das Wählen im Ausland erleichtert hat. Früher musste man zur Stimmabgabe in die Türkei, später konnte man an den großen türkischen Flughäfen wählen, seit 2014 auch in Konsulaten. Damit stieg die Wahlbeteiligung in Deutschland von Wahl zu Wahl an.

Doch nicht nur ihre organisatorische und taktische Stärke spielte der AKP in die Hände, sondern auch die fehlende Programmatik der Oppositionspartei CHP. »Sie hat sich kaum um die Auslandstürken bemüht, hat in Deutschland kaum öffentlich sichtbaren Wahlkampf betrieben und die Deutschtürken vernachlässigt«, betont Özgür Özvatan. Dass die CHP den Kampf um das deutsch-türkische Wählerpotenzial – immerhin die größte wahlberechtigte Diaspora weltweit – gar nicht erst wirklich aufgenommen habe, sei ein großer Fehler, erklärt der Soziologe.

Egal, ob Erdoğan oder Kılıçdaroğlu gewinnt, in der Türkei scheint sich eine Verschärfung rechter Tendenzen im Land abzuzeichnen. Vor der Stichwahl hatte Kılıçdaroğlu wiederholt gegen syrische Geflüchtete in der Türkei gehetzt und damit versucht, die AKP rechts zu überholen. Angesichts hoher Inflationsraten in der Türkei, einer ökonomischen Krise, Einschränkungen von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit sowie einer zunehmenden Aushöhlung des Minderheitenschutzes gelingt es der CHP nicht, sich als wirkliche Alternative zu profilieren. »Die Rechtsaußenpolitik der CHP hat ihr eher geschadet«, ist sich Özgür Özvatan sicher.

Zwischen diesen beiden Machtblöcken droht die linke YSP zerrieben zu werden. Ihr gelingt es zwar, die Demokratisierung des Landes, Umverteilungsfragen und Minderheitenschutz zu thematisieren, doch fehlt es ihr an breiter Unterstützung. Zudem ist sie von staatlicher Repression betroffen. Die YSP hatte zur Wahl Kılıçdaroğlus aufgerufen, in erster Linie um eine Wiederwahl Erdoğans zu verhindern. Doch selbst wenn Kılıçdaroğlu gewinnt, bleibt es für progressive Stimmen – sowohl in der Türkei als auch in Deutschland – ein schwieriges Terrain.

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