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- Wirtschaftskrise in Argentinien
Überleben bis zum Neuanfang
Armut grassiert in Argentinien, aber die Linke kann davon bislang nicht profitieren
In der Nähe des Bahnhofs Constitución, im Zentrum von Buenos Aires, bilden sich lange Schlangen. Hunderte von Menschen versammeln sich bereits früh am Morgen, um ein Mittagsessen zu erhalten. Im Hof eines Gewerkschaftshauses werden bis zu 3000 Portionen am Tag gekocht. Mal ist es Eintopf, mal Ravioli und an besonderen Tagen Pizza. Vanessa López ist eine der Köchinnen. Sie arbeitet seit Anfang 2020 im Rahmen eines Arbeitsbeschaffungsprogramms in der Suppenküche. »Vor der Pandemie haben wir hier im Hof Tische aufgestellt, an denen die Menschen essen konnten«, erzählt sie. Jetzt bräuchten sie ein Festzelt.
Mit den Maßnahmen während der Pandemie hat sich die Situation geändert. Der Hunger breitete sich aus. In den schlimmsten Monaten kochten sie über 10 000 Portionen am Tag, doch seit dem offiziellen Ende der Pandemie ist die Zahl nicht wie gewünscht zurückgegangen. »Die wirtschaftliche Situation ist ein Desaster«, sagt López. Argentinien befindet sich in einer schweren Krise. Die Inflationsrate übertrifft sich jedes Jahr von Neuem – über 100 Prozent waren es im vergangenen Jahr. Die Armut steigt unaufhörlich, mittlerweile leben 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze; immer mehr landen auf der Straße, weil sie die hohen Mieten nicht mehr zahlen können.
Fünf Monate vor den Wahlen steht die peronistische Mitte-links-Regierung unter Alberto Fernández vor dem Aus. Sie trat an mit dem Versprechen, die neoliberalen Reformen der Vorgängerregierung unter Mauricio Macri rückgängig zu machen und die Armut zu bekämpfen. Doch linke Kreise kritisieren inzwischen ihre eigene Regierung. Regelmäßig gehen sie auf die Straße. Gleichzeitig gewinnt der rechtslibertäre Javier Milei immer mehr Zustimmung.
Die peronistische Galionsfigur Cristina Fernández de Kirchner, Strippenzieherin der aktuellen Regierung, wird bei der Wahl nicht mehr antreten. »Wir haben keine Führungsposition, Cristina hat eine Lücke hinterlassen«, erzählt die Gewerkschaftssekretärin Ingrid Manfred auf einer Demonstration am 12. April. Sie seien auf der Straße, um höhere Löhne zu fordern: »Im Sozialministerium, wo wir arbeiten, gibt es Angestellte, die zu wenig verdienen, um über der Armutsgrenze zu leben«, erklärt sie, »das darf nicht sein«.
Eigentlich hatte Manfred gehofft, dass mit der neuen Regierung die Zeit zurückgeschraubt wird und eine neue Epoche der Kirchner beginnen würde. Unter dem verstorbenen Ehemann von Cristina Fernández de Kirchner, Néstor Kirchner (2003-2007), wurden Sozialprogramme gestärkt, die Armut reduziert, und das Land erlebte einen Wirtschaftsaufschwung. Nach dessen Tod setzte seine Frau Cristina seine Agenda als Präsidentin bis zum Ende ihrer Amtszeit 2015 fort. Dies sollte auch in dieser Legislaturperiode so sein. Mit dem bisher relativ unbekannten Alberto Fernández an der Seite von Kirchner als Vizepräsidentin wollte der Peronismus ab 2019 wieder erstarken.
Doch alles kam anders. Die Pandemie, die wirtschaftlichen Probleme aufgrund des Krieges in der Ukraine sowie eine Jahrhunderttrockenheit auf dem Land sorgen für schwere Rahmenbedingungen. Innerhalb der peronistischen Regierungskoalition gibt es viel Streit. Ein Gericht verurteilte zudem Kirchner zu sechs Jahren Haft, weil sie Bauaufträge an ein Unternehmen vergeben hat, das laut der Staatsanwaltschaft vom ehemaligen Regierungspaar gegründet und von einem Geschäftsfreund geführt wurde.
Während die einen Kirchners Verurteilung als Beweis für eine korrupte Mitte-links-Regierung sehen, sind sich die anderen sicher, dass das Verfahren ein Versuch ist, die progressive Politikerin von der politischen Bühne zu vertreiben. Das Urteil muss noch vom obersten Gericht bestätigt werden, bis dahin dürfte sich Kirchner zur Wahl aufstellen.
»Cristina will sowieso nicht wieder antreten«, meint Juan Grabois zur derzeitigen Debatte. »Sie möchte den Stab weitergeben und neue Leute fördern.« Grabois ist Rechtsanwalt und Kopf der Bewegung der ausgeschlossenen Arbeiter*innen (MTE) – einer Organisation, die sich im Zuge der Wirtschaftskrise von 2001 gegründet hat und Beschäftigte, die im informellen Bereich arbeiten, unterstützt und organisiert. Dazu gehören Kartonsammler*innen, Landarbeitende und ehemalige Gefangene, die sich überall im Land in Genoss*innenschaften organisieren.
Im Jahr 2018 beschloss die MTE zusammen mit anderen Bewegungen unter Grabois’ Führung die Partei Frente Patria Grande zu gründen. 2019 nahmen sie erstmals bei der Wahl teil und gewann drei von insgesamt 257 Parlamentssitzen und ist seitdem Teil der Regierungskoalition.
Grabois hat noch Großes vor. In seinem Büro im wohlhabenden Norden von Buenos Aires blicken die Unabhängigkeitshelden San Martin und Simón Bolivar auf den Wortführer der Verarmten hinab. Auf seinem Tisch ist ein Buch vom Papst Franziskus. Er selber hat sich als Präsidentschaftskandidat für die internen Vorwahlen der Regierungskoalition aufgestellt. »Für diese Wahl möchten wir den Neoliberalen innerhalb der Regierungskoalition die Stirn bieten. Es kann nicht sein, dass es keine linken Kanditaten gibt«, erklärt Grabois. Innerhalb der Regierungskoalition gilt der liberal-konservative Sergio Massa als Favorit. Seit Ende Juli leitet er ein Superministerium für Wirtschaft.
Grabois’ Vorhaben ist aber nicht nur ein Kräftemessen. »Wir wollen, dass die Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft Teilhabe an der Politik haben.« Genau deswegen habe seine Partei eine Kartonsammlerin und einen Bewohner eines Armenviertels von Buenos Aires ins Parlament gebracht. Diese Menschen seien von jeher ignoriert worden, sagt er. Auch von der angeblichen Linken, »die als professionelle Politiker vor der Bourgeoisie und einem guten Lohn kapituliert haben.« Grabois besinnt sich auf die mexikanischen Zapatistas, das bedeute, politische Strukturen an der Basis zu schaffen und dort die wichtigsten Probleme zu lösen. Diese Basisarbeit sei enorm wichtig und unterscheide die MTE von anderen politischen Parteien.
Bei der Wahl gehört Grabois nicht zu den Favorit*innen. In den bisherigen Umfragen kommen vor allem Patricia Bullrich, die ehemalige Sicherheitsministerin unter dem rechten Präsidenten Mauricio Macri, und Javier Milei auf die ersten Plätze.
Besonders Milei ist ein neues Phänomen, erklärt die Politikwissenschaftlerin Maria Casullo. Eigentlich haben in Argentinien immer die großen Parteien regiert, aber Milei grenzt sich mit seiner Partei La Libertad Avanza von der rechten Koalition Juntos por el Cambio ab. Der bisherige Abgeordnete für Buenos Aires schlägt für das Land eine Schocktherapie vor: Private Akteure sollen öffentliche Bauvorhaben durchführen, Sozialleistungen will er kürzen und die Wirtschaft möchte er auf Dollar umstellen. Gleichzeitig ist Milei, der sich selbst »der Löwe« nennt, extrem misogyn. Im Frühjahr 2023 machten Frauen aus seiner Partei publik, dass sie mit Milei oder anderen Männern Sex haben mussten, um höhere Posten zu bekommen.
Milei gibt sich als Outsider, der gegen die »Politikerkaste« wettert und die Korruption sowie Vetternwirtschaft beenden will. Casullo wundert sich nicht über den Erfolg Mileis. »Sowohl der rechte Macri als auch der derzeitige Präsident Alberto Fernández sind äußerst unbeliebt«, sagt die Politikwissenschaftlerin. Dies liege vor allem an der ausufernden Inflation.
Eigentlich habe der derzeitige Präsident gar keine so schlechte Arbeit gemacht, »unter Fernández wurden viele öffentliche Bauvorhaben umgesetzt, sei es bei den Straßen oder öffentlichen Schulen. Auch die öffentlichen Universitäten haben von seiner Regierung profitiert«, sagt Casullo. Doch all dies alles verblasse, wenn sich die Preise verdoppeln. »Die Argentinier*innen wollen konsumieren, wenn aber ihre Kaufkraft zurückgeht, ist alles verloren.«
Zum Problem der aktuellen Regierung gehöre auch ihre Unterschiedlichkeit. Die peronistische Koalition ist deutlich breiter aufgestellt als unter Nestór Kirchner. Viele linke Parteien, wie das Frente Patria Grande oder die Kommunistische Partei, sind zwar in dem Bündnis, widersetzen sich aber gleichzeitig öffentlichkeitswirksam gegen die Maßnahmen der eigenen Regierung.
Fernández hat es bislang nicht geschafft, sich umfassend durchzusetzen. Dies sei ohnehin ein allgemeines Problem der progressiven Linken in Lateinamerika, meint Casullo, sei es in Brasilien oder Chile. »Die Präsidenten wollen es allen recht machen und schaffen es nicht, ihre eigene Entscheidung ausreichend zu verteidigen.« Dies liege auch an einer neuen Form der Gefolgschaft, »früher konnte ein linker Präsident sagen, dass der Haushalt gekürzt werden muss, und die Wähler*innen hätten das hingenommen. Heute geht das nicht mehr.«
Grabois sieht ein anderes Problem in seinem politischen Lager. »Die progressive Linke hat sich von der Arbeiter*innenschaft entfernt.« Wie wichtig diese Nähe ist, zeigt er am Beispiel der faschistischen Regierungschefin Giorgia Meloni in Italien. Sie habe einen Hintergrund, wie es früher die linken Politiker*innen gehabt hätten. Sie kommt aus der Arbeiter*innenschaft und wisse, was unzureichende Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und Armut sind.
Grabois beklagt eine Desorientierung bei der Linken. Viele Themen, wie die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen auf dem Land, seien weit entfernt vom Lebensumfeld vieler linker Akteure. Andere gesellschaftliche Probleme wie Drogensucht oder Kriminalität bergen ein hohes Konfliktpotenzial: »Wenn du über Drogensucht spricht, bist du rechts, weil man alles legalisieren soll«, kommentiert Grabois. »Doch unsere Jugendlichen werden krank, bringen sich um oder greifen zu den Waffen.« Für sie gäbe es derzeit keine humanistische Perspektive, um sich der »antihumanen« Politik der Rechten entgegenzustellen. »Wenn du Foucault zitierst, um die Kriminalität zu verstehen, dann entfernst du dich vom einfachen Volk.«
Grabois sieht es als seine Aufgabe an, Benachteiligte zu unterstützen. Sie sollten Protagonist*innen der Politik sein. Doch obwohl die MTE von Jahr zu Jahr stärker und Grabois mittlerweile zu großen Talkshows eingeladen wird, braucht es noch Zeit, bis daraus ein Regierungsprogramm wird. Casullo glaubt aber nicht an einen großen Erfolg. »Die Kampfformen der Linken sind erschöpft. Mit Demonstrationen und sich von der Polizei verprügeln lassen, erreicht man derzeit wenig«, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Der Köchin López in der Suppenküche wird nicht so schnell die Arbeit ausgehen. Der Andrang ist groß. Dabei ist sie selbst von Armut betroffen. Ihr Lohn beträgt gerade einmal 150 Euro. Auf die Frage, wie sie davon überleben könne, antwortet sie, die in einem Außenbezirk Buenos Aires wohnt, »mehr schlecht als recht.« Der Lohn ihres Ehemanns, die Subventionen für ihre Kinder und die Möglichkeit, Essen von der Suppenküche mitzunehmen, ermöglichen das tägliche Überleben. »Es ist schlimmer als im Jahr 2001«, sagt sie. »Und das war damals sehr hart.«
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