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»Die Verräter«: Der Krieg der Heimatlosen

Mit »Die Verräter« hat Artur Weigandt ein berührendes Buch über die Trennungskinder der Systeme geschrieben: die Post-Ostler aus den früheren Ländern des Warschauer Vertrags

  • Ingo Petz
  • Lesedauer: 4 Min.

Gerüche, wenn man sie in der Kindheit aufnimmt, sind ein Stück Heimat. Sie schieben sich in die Herzkammer der Erinnerung und bleiben dort, bis zu unserem letzten Atemzug. Kein Wunder also, dass es in Artur Weigandts Buch »Die Verräter« riecht und duftet und manchmal auch stinkt. Nach Blinis, Tschai, also Tee, nach Spiegeleiern, Sprotten, Pelmeni, Räucherfisch, nach McDonald’s oder nach Wodka.

Weigandt ist auf der Suche nach dem, was Heimat bedeutet, was sie mit einem macht, gerade dann, wenn man sie nicht mehr hat, wenn man sie verloren hat und sie nur noch durch nebelhafte Erinnerungen zu einem spricht, die trügerisch sein können oder auch verräterisch. Gegen Ende des Buches resümiert er: »Ich dachte immer, Uspenka sei meine Heimat, aber wenn ich heute an diesen Satz denke, dann merke ich, dass die Verbundenheit mit Uspenka immer schon konstruiert war. Uspenka, das war eine Sehnsucht und eine Erinnerung, an eine Heimat, die ich verkläre, um nicht sehen zu müssen, was dieser Ort nicht mehr ist. Nämlich Heimat.«

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Weigandt wurde 1994 geboren, in Uspenka, einem Kaff in der kasachischen Steppe. Das Dorf entstand, weil Stalin Russlanddeutsche dorthin deportieren ließ, aber auch Ukrainer oder Belarussen, die dem Sowjetsystem ein Dorn im Auge waren. Die Folgen dieser gewaltvollen Politik des Entwurzelns, des Verschiebens und letztlich des Vernichtens von Identitäten sind Kern dieses schmalen Buches, das den Leser in seiner inhaltlichen, empathischen und emotionalen Konzentration mitreißt und mitschleudert – in eine Welt, die nur die wenigsten Deutschen kennen, obwohl sie längst Teil der deutschen Gesellschaft ist.

Weigandts Familie ist ein Potpourri an Identitäten und Kulturen: väterlicherseits russlanddeutsch, mütterlicherseits belarussisch und ukrainisch, zusammengehalten von sowjetischen Mythen und postsowjetischer Verklärung und teilweise Verbitterung. Weigandts Eltern verlassen Kasachstan Mitte der 1990er Jahre, weil es keine Perspektive, keine Zukunft gibt, die sie ihren Kindern ermöglichen wollen und weil Artur an einem Halswirbeltrauma leidet, das von der Geburt herrührt und das in Deutschland therapiert werden kann. Der Umstand, dass nicht alles am rechten Ort sitzt, verrutscht ist und deswegen zu einem Trauma führt, steht sinnbildlich für das Identitätstrauma, das Weigandt mit diesem Buch nicht nur verarbeitet, sondern offenlegt, es an die Oberfläche zerrt, mal mit viel Gefühl, mutig und verletzlich, mal kämpferisch wütend und brachial. Das tut er für alle Post-Ostler, also für alle, die eine gemeinsame Vergangenheit in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes haben und nun in Deutschland leben. Immerhin rund 3,5 Millionen Menschen.

Der brutale Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine entfacht hat, hat die Post-Ostler getroffen, sie von Familienmitgliedern und Freunden entfremdet, weil sich die einen zur Ukraine bekennen und die anderen an die sowjetischen Mythen und Lügen klammern, die das russische Imperium zu seinen heiligen Waffen erklärt hat. Auch Weigandt leidet darunter, »dass der Krieg sich durch meine Herkunftsgeschichte zieht. Wenn früher die Identität eine Wahl war, die in den jeweiligen Ländern ein Gefühl der Zugehörigkeit versprach, ist sie heute für mich eine Entscheidung. Eine Entscheidung gegen die russische Welt, die ich seit meiner Kindheit kenne. Vielleicht sogar irgendwie liebte. Sie war wie eine eigene Welt, in der sich vorgeblich alle miteinander verstanden. Diese Zeit ist vorbei. Das russische Volk, Moskau und Putin haben sie vernichtet«.

Weigandt, der heute als Journalist und Autor arbeitet, wächst im Emsland auf. Er lebt zwischen den Welten, zwischen der deutschen und der irgendwie russisch gearteten, weil er »von dort« kommt, weil er Russisch spricht, ihn das rollende R im Deutschen verrät. »Wir Kinder des Ostens sind Trennungskinder. Im Osten geboren«, schreibt er. »Im Westen aufgewachsen. Beide Seiten wollen uns nicht haben. Unsere Eltern haben uns eine hybride Identität vererbt. Manche von uns bleiben bei einer Identität und nennen sich Russlanddeutsche, Russen, Ukrainer und Belarussen. Andere haben Elternteile mit vielen verschiedenen Identitäten.«

Bei der Buchpremiere in Berlin meldeten sich einige Post-Ostler aus dem Publikum, die dem Autor für das Buch dankten, dafür, dass er die wichtigen Fragen, »die uns auch umtreiben und beschäftigen«, so schonungslos stelle und so mutig mit seiner Haltung nach vorne presche. Bei der Lektüre dieses wichtigen Buches, das zwischen autobiographischen und literarischen Episoden und analytischen Einwürfen wechselt, das mit wunderbaren erzählerischen Passagen ausstaffiert wird, ist kein Schongang angesagt.

Weigandt liefert eingehende Einblicke in die kaputte postsowjetische Welt der 1990er, vom Krieg in der Ukraine, in die zerrissenen Leben der Post-Ostler. Er konfrontiert Freunde und Bekannte mit unangenehmen, bohrenden Fragen, um die perfiden Mechanismen von Propaganda und Mystifizierung offenzulegen und die Krankheit der Nostalgie zu bekämpfen. Er geht auch immer gegen die Überassimilierungsforderungen und Idenititätsverdrängungswünsche der deutschen Konsensgesellschaft gegenüber Migranten vor. Er schont auch sich selbst nicht, traktiert sich mit Zweifeln, er legt die Finger in Wunden, evoziert bewusst Schmerz und Trauer und Wut – um den einzigen Prozess anzustoßen, der helfen kann: den der Erkenntnis.

Artur Weigandt: Die Verräter.
Hanser, 160 S., geb. 22 €.

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