Lina E.: Ein Urteil ohne »Antifa-Bonus«

Das Dresdner Gericht ließ Verständnis erkennen für die Motivation von Lina E. & Co. Auswirkungen aufs Strafmaß hatte das nicht

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Aufkleber waren in Eisenach allgegenwärtig. »Nationaler Aufbau« stand darauf oder »I love NS«. Sie markierten die Reviere einer vitalen Naziszene, die in der Stadt in Thüringen über Jahre ungestört gedeihen konnte. Sie nistete sich in eigenen Domizilen ein: dem »Volkshaus Flieder« oder der Kneipe »Bull’s Eye« von Szenegröße Leon Ringl. Es gab Rechtsrockkonzerte, Kampfsporttrainings, »Kiezpatrouillen«. Letztere sollten Gegner einschüchtern, die zu Hause und auf der Straße gejagt und teils schwer verletzt wurden. In Eisenach habe es »über Jahre andauernde Gewalt« gegeben, sagt die linke Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss. Die Sicherheitsbehörden, fügt sie an, »ließen die Nazis agieren«: Diese konnten »über Jahre machen, was sie wollten«.

Was in Eisenach geschah, sei »alltäglicher Rechtsextremismus«, sagt Hans Schlüter-Staats. Mit diesem, gesteht der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Dresden, täten sich Polizei und Justiz schwer. Bei spektakulären Taten – Brandanschlägen, Angriffen auf Politiker – zeige man zwar Härte. Auch habe seine Kammer seit 2018 Haftstrafen von insgesamt 88 Jahren gegen Nazis verhängt. Aber, gesteht er zu, in Orten wie Eisenach könne der Eindruck entstehen, »da passiert sonst nichts«.

»Sonst« heißt: wenn man nicht selbst aktiv wird. Das, so sind Schlüter-Staats und seine Richterkollegen überzeugt, haben die junge Frau und ihre drei Mitstreiter gemacht, die seit September 2021 vor ihnen auf der Anklagebank sitzen. Im Oktober 2019 seien Lina E. und etliche andere Antifas aus Leipzig nach Eisenach gefahren und, mit Schlagwerkzeugen bewaffnet, im »Bull’s Eye« eingefallen; drei Monate später hätten sie Leon Ringl vor dessen Wohnhaus abgepasst und angegriffen. Man habe einen prominenten Nazi »erheblich verletzen« und damit auch ein Signal in die Szene senden wollen: Ihr seid nicht sicher. Lasst euer rechtes Treiben sein.

Staatliches Versagen beim Kampf gegen Rechts

Die Attacken in Eisenach und weitere Überfälle in Leipzig, Kühren und Wurzen sind Straftaten; es geht unter anderem um gefährliche Körperverletzung in mehreren Fällen. Dass sie aus politischen Motiven erfolgten, macht die Sache aus Sicht der Bundesanwaltschaft schlimmer. Ihre Prozessvertreterin Alexandra Geilhorn warf den Angeklagten vor, aus einer »von allen geteilten militanten antifaschistischen Ideologie« heraus das Recht in die eigenen Hände genommen und damit das Gewaltmonopol des Staates als Grundpfeiler der Demokratie erschüttert zu haben. Sie forderte für Lina E. acht Jahre Haft. »Maßlos« nannte das Ulrich von Klinggräff, einer ihrer Verteidiger. Er gab zu bedenken, wer sich angesichts »staatlichen Versagens« beim Kampf gegen Rechts der »faschistischen Gefahr« entgegenstelle, verdiene eher Belohnung: »Man könnte das strafmildernd bewerten.«

Dazu war das Gericht nicht bereit. Am Ende des Prozesses, in dem nach 97 Verhandlungstagen an diesem Mittwoch das Urteil fiel, bescheinigte Schlüter-Staats den Angeklagten zwar ein »achtenswertes Motiv«. Er bestätigte auch, dass »rechte Gewalt die größte Gefahr für die Gesellschaft ist«. Einen »Antifa-Bonus« gab es dennoch nicht. »Bei aller berechtigten Kritik« herrsche in der Bundesrepublik keine Situation, die Notwehr notwendig mache, und auch gewalttätige Nazis würden durch ihre Taten »nicht vogelfrei«, sagte Schlüter-Staats. Er verurteilte die Angeklagten zu langjährigen Haftstrafen. Bei Lina E., die bereits seit November 2020 in Untersuchungshaft sitzt, sind es fünf Jahre und drei Monate. Allerdings teilte Schlüter-Staats am Ende einer zehnstündigen mündlichen Urteilsbegründung mit, dass sie das Gefängnis nach über 900 Tagen Haft gegen Auflagen zunächst verlassen darf. Die Reststrafe muss sie absitzen, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Ihre Mitangeklagten müssen zwischen 29 und 39 Monate hinter Gitter. Die Verteidiger kündigten an, in Revision gehen zu wollen.

Die Szene betrachtete den Prozess mit Argwohn

Der Prozess, bei dem es sich um den größten gegen die militante linke Szene in jüngerer Zeit handelte, wurde von dieser mit Argwohn beobachtet. Schließlich lautete der Kernvorwurf der Bundesanwaltschaft, die Angeklagten hätten eine kriminelle Vereinigung nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuches gebildet. Dieser wird, gerade in Sachsen, seit Jahren von Ermittlern bemüht, um die linke Szene ausspähen zu können. Im Dresdner Prozess ging es um Beweismittel, die bei der Überwachung von Telefonen und Chats, Observationen oder dem Abhören in Autos gewonnen wurden. Bisher waren alle diese Ermittlungsverfahren im Sande verlaufen. Nun reichte es für eine Anklage, und die Bundesanwaltschaft nutzte das nach Ansicht der Verteidiger als »Testballon«, wie weit sie nach einer 2017 erfolgten Novelle des Paragrafen in politisch motivierten Verfahren gehen könne.

Das nannte Schlüter-Staats »juristischen Unsinn«. Die Kriterien für kriminelle Vereinigungen im politischen Bereich habe der Bundesgerichtshof bereits 2009 am Beispiel der Nazi-Kameradschaft »Sturm 34« festgelegt. Im Kern sei das ein »übergeordneter Gruppenwillen« und ein »Mindestmaß an Organisation«. Beides erkennt er bei Lina & Co. Sie hätten das Ziel verfolgt, Nazis einzuschüchtern, und dabei klandestin agiert, abgeschottet kommuniziert, die Überfälle trainiert und Opfer langfristig ausgespäht. Lina E. habe neben ihrem Lebensgefährten Johann G., der untergetaucht ist, eine »hervorgehobene Bedeutung« in der Gruppe gehabt. Sie sei aber, anders als von der Anklage behauptet, keine »Rädelsführerin« gewesen. Das dürfte einer der Gründe sein, warum das Urteil klar hinter der Forderung der Bundesanwaltschaft zurückbleibt. Weitere sind die lange Dauer von Prozess und Haft, die dort verschlimmerte Krankheit sowie die »Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte«. Bilder der Szene, als sie wie eine Terroristin in Karlsruhe vorgeführt wurde, sowie Angaben aus durchgestochenen Prozessakten tauchten in Boulevardmedien und der rechten Postille »Compact« auf. »Es gab echte Vorverurteilung«, sagte der Richter.

Den Zorn der linken Szene über den Prozess und das Urteil, der sich auch im Gerichtssaal in Zwischenrufen wie »Klassenjustiz« und »Faschofreunde« artikulierte, wird das kaum dämpfen. Derweil hat die Bundesanwaltschaft im Mai gegen den Eisenacher Neonazi Leon Ringl Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung erhoben. Er wurde kurz nach seiner Zeugenaussage im Dresdner Prozess verhaftet. Ob es dazu auch gekommen wäre ohne den Antifa-Angriff auf ihn und seine Kneipe, darf spekuliert werden.

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