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Der Traum von Rückkehr

Neapel bleibt eine hart umkämpfte Stadt zwischen Legalität und Illegalität: »Nostalgia« von Mario Martone

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Wie gefährlich ist die Vergangenheit? Felice (Pierfrancesco Favino) kann sich nur mit dem Pater (Francesco Di Leva) verbünden, um diese Frage zu beantworten
Wie gefährlich ist die Vergangenheit? Felice (Pierfrancesco Favino) kann sich nur mit dem Pater (Francesco Di Leva) verbünden, um diese Frage zu beantworten

Neapel bringt einen nicht ins Schwärmen wie Florenz oder Venedig. Diese Stadt mit Ausblick auf den Vesuv, auf Capri und Ischia hat etwas von einem gefährlich schillernden Moloch, den man als Fremder nie verstehen wird. In keiner anderen italienischen Stadt hätte ich mir so dringlich einen Begleiter gewünscht wie hier, um nicht von Beschützer zu sprechen. Denn bereits die Kulissen sind einschüchternd – und man kann als Fremder nicht recht einordnen, was daran bloßer Effekt und was echte Bedrohung ist.

Kommt man vom Bahnhof und will zum Fährhafen zu den Inseln, wird man schnell zur Beute; wenn man Glück hat, dann nur von Taschendieben. Ein Junge mit bereits blau geschlagenen Augen drängte sich einmal beim Aussteigen aus dem Bus an mir vorbei, als ich meinen Koffer heraus hievte. Dann stand er kurze Zeit später wieder vor mir und hielt mir stumm mein Etui mit Sonnenbrille in meiner Sehstärke entgegen, das er mir zuvor aus der Tasche gezogen haben musste. Damit konnte er offenbar nichts anfangen – und gab die Beute zurück. Ich nahm das Etui und bedankte mich höflich. Und er hatte an diesem Tag seinem Priester eine Sünde weniger zu beichten. In welcher Stadt gibt es das sonst noch, dass die Diebe einem etwas zurückgeben?

Halb Müllhalde, halb verblichene Kulisse des einstigen Königreichs, das ist Neapel. Die Stadt spielt die eigentliche Hauptrolle in »Nostalgia«. Es bröckelt an allen Ecken wie im Prenzlauer Berg der 80er Jahre. Doch scheint die überbordende Energie ganz von heute zu sein. Neapel wird immer noch beherrscht von der Camorra, das sind Familien-Clans, die mit Drogen- und Waffenhandel, Diebstahl, Prostitution und Schutzgelderpressung ihr Geld machen und dieses in den von ihnen kontrollierten Betrieben waschen. Die Camorra setzt so in Neapel jedes Jahr etwa 24 Milliarden Euro um. Wer hier das Sagen hat, ist klar. Arbeitslose Jugendliche finden über die Camorra Jobs – und werden so von früh an Teil der kriminellen Struktur der Stadt. Gegen die Mafia funktioniert nichts, nicht einmal die Müllentsorgung. Wehe, jemand stellt sich diesem hochprofitablen Unternehmen entgegen! Wer sich nicht korrumpieren lässt, wird – gestern wie heute – von Auftragsmördern beseitigt.

Und die Bevölkerung? Der in Turin geborene Mario Soldati charakterisierte diese in seinen »Briefen aus Capri« einst erbarmungslos als »menschlichen Staub« und ließ einen US-Offizier am Ende des Zweiten Weltkriegs resigniert feststellen, die fremde Armee sei in Neapel »völlig ohnmächtig, auch nur einen Anfang von Ordnung herzustellen«. Ja, man ist hier seit jeher immun bis zur Selbstzerstörung gegen jede fremde Machtanmaßung.

Tritt niemand der Camorra entgegen? Doch, einige katholische Priester und vielleicht noch eine Handvoll Staatsanwälte und Polizisten, die von außerhalb kommen. Neapel bleibt eine hart umkämpfte Stadt zwischen Legalität und Illegalität.

In diese Atmosphäre tauchen wir ein mit Mario Martones eindringlichem Film »Nostalgia« nach dem gleichnamigen Roman von Ermanno Rea. Wir begleiten Felice (auf friedliche Weise charismatisch: Pierfrancesco Favino), der Neapel als 15-jähriger verließ und in Kairo als Bauunternehmer lebt, bei seiner Rückkehr nach Neapel 40 Jahre später. Denn seine alte Mutter wohnt hier, er will sie noch einmal treffen. Seine Reise in die Heimatstadt wird zu einem Passionsweg, dem Martone ein Zitat von Pier Paolo Pasolini voranstellt: »Erkenntnis liegt in der Nostalgie. Wer nichts verloren hat, besitzt sie nicht.« Und Felice, fast schon ein alter Mann, will wissen, was er in dieser Stadt verloren hat.

Im Deutschen hat das Wort Nostalgie eine eher negative Bedeutung – hier nicht: Gemeint ist die Sehnsucht nach jenen Anfängen, die man mit den Jahren immer weiter zurücklässt. Ein Art Melancholie, ohne die es keine Poesie gäbe. Oder wie E.M. Cioran schreibt: »Ohne Melancholie begännen die Nachtigallen zu rülpsen.«

Der Film spielt in einem einzigen alten Stadtviertel von Neapel, dem düsteren Sanità mit seinen steilen und engen Gassen. Hier findet Felice seine Mutter, aber nicht in ihrer früheren Wohnung, sondern kurzerhand umquartiert in einem dunklen Parterreloch. Die alte Frau konnte sich nicht dagegen wehren, denn hier herrscht das Recht der Stärkeren. Felice ahnt: Ein kurzer Besuch wird nicht reichen. Er sucht seiner Mutter eine neue helle Wohnung, badet und pflegt sie. Ausreichend Zeit für ihn, um sich an seine Kindheit und Jugend in Sanità zu erinnern.

Er geht auf Spurensuche, vor allem seinen alten Jugendfreund Oreste (auf gefährliche Weise verbittert: Tommaso Ragno) will er treffen. Man warnt ihn: Dieser sei der Kopf der Camorra in Sanità, ein skrupelloser Mörder. Aber Oreste war doch einmal Felices bester Freund und zudem mitverantwortlich dafür, dass er mit 15 Jahren so plötzlich Neapel verlassen musste! Ein Geheimnis verbindet sie.

Felice erkundigt sich überall nach Oreste, der sich im Untergrund verbirgt. Er trifft den Priester Don Luigi Rega (Francesco di Leva), ein offener Camorra-Gegner in Sanità, der in seinen Predigten immer wieder zum Widerstand gegen die Mafia aufruft. Auch er rät Felice, sofort die Stadt zu verlassen. Denn es hat sich herumgesprochen, wen Felice sucht. Man zündet sein Motorrad an, bricht in seine Wohnung ein, sprüht »Verschwinde!« an die Wände. Schließlich trifft er Oreste, der ihm offen droht: Wenn er nicht sofort abreise, dann sei ihm nicht mehr zu helfen. Er sei hier ein unwillkommener Störenfried.

Soweit der Thriller, der dieser hochpoetische Film auch ist. Aber Felice will sich nicht beugen, er stellt sich blind und taub für alle Drohungen. Das ist doch auch seine Stadt, seine Heimat! Er kauft ein Haus und bucht für seine Frau, die in Kairo als Ärztin arbeitet, einen Flug. Sie werden hier leben, wo seine Mutter inzwischen gestorben ist.

Warum macht Felice das? Weil er Menschen getroffen hat, die ihm immer noch nah sind. Er versteht diese auf schmutzige Weise doch schön gebliebene Stadt, wie das wohl nur jemand vermag, der dort geboren wurde. Neapel habe sich im Guten wie im Bösen kein bisschen verändert, bemerkt er mit leisem Schaudern. Es ist immer noch die gleiche Stadt, aus der er einst flüchtete.

Regisseur Mario Martone lief mit der Handkamera durch Sanità, ein einziges Labyrinth, in dem man schnell verloren gehen kann. Er traf viele Menschen, die zugleich voller Lebensfreude und tiefer Resignation über die sich nicht ändernde Misere waren. Er ließ sich von ihnen Geschichten erzählen, meist keine guten. Martone erinnert sich an diese vielen Gänge durch das finstere Herz Neapels: »Vielleicht gibt es keinen Sinn, vielleicht gab es ihn nie. Es gibt ein Labyrinth und es gibt eine Sehnsucht, die das Schicksal von vielen, vielleicht von uns allen ist.«

Was gilt eine alte Freundschaft hier noch? Felice will es wissen. Um jeden Preis folgt er seinem Traum von Rückkehr.

»Nostalgia«, Italien/Frankreich 2022. Regie: Mario Martone. Mit Pierfranceso Favino, Sofia Essaidi, Nello Mascia, Tommaso Ragno, Francesco Di Leva. 117 Minuten, Kinostart: 8.6.

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