August Ellinger: Vergangene Zukunft des Wohnens

August Ellinger war Pionier des sozialen Wohnungsbaus und des genossenschaftlichen Bauwesens. Vor 90 Jahren starb der Gründer der GEHAG

  • Steffen Adam
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Berliner Siedlung in der Form eines Hufeisens gehört seit 2008 zum Unesco-Weltkulturerbe. Sie wurde ab 1925 erbaut und betrieben von der GEHAG, die August Ellinger mitgründete.
Die Berliner Siedlung in der Form eines Hufeisens gehört seit 2008 zum Unesco-Weltkulturerbe. Sie wurde ab 1925 erbaut und betrieben von der GEHAG, die August Ellinger mitgründete.

Am 18. Juni 1933 nahm sich August Ellinger das Leben. Der Funktionär im Baugewerbe und der genossenschaftlichen Organisation des Wohnungsbaus starb im Angesicht drohender Verhaftung, Verhöre, Folterungen durch deutsche Behörden – die unlängst in der nationalsozialistischen Diktatur aufgegangen waren – in seinem Berliner Haus, in der nach Plänen von Bruno Taut errichteten Siedlung Eichkamp.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Als bekannter Gewerkschafter und SPD-Mitglied mit Fokus aufs Bauwesen, auf die Schaffung sozial bezahlbaren Wohnraums für die breite Masse der Bevölkerung und zugleich die Schaffung sicherer, nachhaltiger Arbeitsplätze am Bau sah Ellinger sich bedroht. Dabei könnte man annehmen, dass er im Grunde einer unverfänglichen Betätigung nachging – äußerst nützlich für Volkswirtschaft und Gemeinwohl. Ein Heer arbeitsloser Bauarbeiter und demobilisierter Soldaten stand einem Wohnungsfehlbestand von rund 700 000 Wohnungen im Deutschen Reich gegenüber. Was konnte, im Sinne des Erfurter Programms der Sozialdemokratie, den Gewerkschaften und allen progressiven Kräften der Gesellschaft näherliegen, als beide Missstände gegeneinander aufzuwiegen, indem man sie miteinander gemein- und genossenschaftlich verband?

Erfolgreiche Sozialisierung

Das jedenfalls war die Idee Ellingers: die Produktion von Wohnimmobilien durch soziale Baubetriebe erfolgen zu lassen, die auf breiter gesellschaftlicher Basis stehen und von den Gewerkschaften unterstützt werden. Nach demselben Muster sollte die Bereitstellung von Baumaterial sozialisiert werden. Baustoffe und Bauprozess wurden als soziales Ziel und gemeinnütziges Projekt verstanden. Die daraus entstandene Bauhüttenbewegung bekam entsprechend viel Unterstützung durch den Staat in der frühen Weimarer Republik, gerade im Wohnungsbau für ärmere Teile der Bevölkerung.

Die auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Grund- und Immobilienspekulanten, die private Bauwirtschaft und ihre Lobbygruppen bekämpften sämtliche Bestrebungen zur Sozialisierung im Bauwesen. Trotz aller Widerstände, inneren politischen Wirren und äußeren Katastrophen – vom Spartakusaufstand bis zum gescheiterten konterrevolutionären Kapp-Putsch, von Ruhr- und Rheinlandbesetzung, Inflation bis zur Hyperinflation –, erwiesen sich der Verband sozialer Baubetriebe und die Bauhüttenbewegung, initiiert und geleitet durch August Ellinger und den Berliner Stadtrat Martin Wagner, als höchst erfolgreich.

Ellinger und Wagner vertraten und führten die Bewegung, bis hin zu internationalen Kontakten, bewältigten Krisen und stellten Reformbestrebungen an. Der Erfolg sprach für sie, denn rund zwei Drittel aller Wohnungen für die Bevölkerungsmehrheit wurden sozial und gemeinnützig errichtet und nur etwas mehr als ein Drittel von der profitorientierten Privatwirtschaft.

Vorbild des Wohnens

August Ellinger und Martin Wagner weiten daraufhin ihre Idee aus – auf eine Sozialisierung der Auftraggeber und einen Wohnungsbau für die Bevölkerung durch die Organisationen, die für diese Bevölkerung wirken und eintreten. Zu diesem Zweck wird am 13. März 1924 die Deutsche Wohnungsfürsorge-Aktiengesellschaft DEWOG in Berlin gegründet. Deren operatives Geschäft der Auftragsvergabe an soziale Baubetriebe, des Eigenbaus und der Verwaltung der entstandenen Immobilien sollte bei gemeinnützigen Gesellschaften der einzelnen Länder oder großen Städten liegen.

Berlin stand als Reichshauptstadt natürlich in besonderem Fokus und zog Vertreter*innen progressiver Ideen, Künstler*innen oder kreative Gruppen aller Couleur an: die Brüder Taut, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Hugo Häring oder Otto-Rudolf Salvisberg aus der Schweiz, um nur einige zu nennen. Vertreter des Bauhauses (aus Weimar, Dessau und Berlin) fühlten sich ebenfalls von der jüngsten Metropole angezogen, wo alles möglich schien.

Am 14. April 1924 gründeten August Ellinger und Martin Wagner im Bundeshaus des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes die Gemeinnützige Heimstätten AG, GEHAG. Gründungsaktionäre wurden der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund ADGB unter Carl Legien (heute DGB), der Allgemeine freie Angestelltenbund AfA-Bund unter Siegfried Aufhäuser (heute bei Verdi), acht Einzelgewerkschaften, darunter die Baugewerkschaft (heute IG Bau-Agrar-Umwelt), die Baugenossenschaft Ideal, zudem die Genossenschaft Freie Scholle Tegel (initiiert von Gustav Lilienthal), die Arbeiterbaugenossenschaft Paradies-Bohnsdorf, der Beamtenwohnverein Neukölln, die AOK-Neukölln mit Emil Wutzky, die Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung, die Volksfürsorge (Rente) sowie die Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten. Die GEHAG finanzierte alle drei Standbeine der Bewegung: Baustoffe, Bauen, Beauftragen.

Was August Ellinger und Martin Wagner mit der GEHAG seit ihrer Gründung unternahmen, betraf nicht nur die Region Berlin-Brandenburg. Die Idee und Umsetzung eines gewerkschaftlich sozialen Bauens wurde reichsweit, ja europa- und weltweit diskutiert, kommentiert und übernommen. Der GEHAG-Wohnungsgrundriss ist praktisch das Vorbild des Wohnens der Welt im 20. Jahrhundert geworden. Dies war auch ein Beweggrund, sechs Siedlungen der Berliner Moderne zum Weltkulturerbe zu erheben.

Zwei dieser Welterbe-Siedlungen, die Hufeisensiedlung in Britz und die Wohnstadt Carl Legien, wurden von der GEHAG Ellingers und Wagners erbaut und betrieben. Eine weitere GEHAG-Siedlung, die Waldsiedlung Zehlendorf »Onkel Toms Hütte« soll noch in diesem Jahr zum bestehenden Welterbe nachnominiert werden.

Werk und Wirken nicht vergessen

Martin Wagner gelang nach der Machtübernahme der Nazis die Flucht in die Freiheit. August Ellinger hatte dazu keine Gelegenheit. Alle deutschen Gewerkschaften waren am 2. Mai 1933 zerschlagen worden, ihre Strukturen zerstört, ihr Vermögen beschlagnahmt. Die Führer wurden verhaftet, so man ihrer habhaft wurde. Die Vorstellung, er müsse seine Tätigkeit vor Nazi-Schergen im KZ rechtfertigen, dürften in August Ellinger den Entschluss zum Freitod befördert haben.

Der Architekten- und Ingenieurverein Berlin-Brandenburg und das August-Bebel-Institut werden mit der Tagung »Zukunft im Wohnungsbau aus Anlass 100 Jahre GEHAG« am 13. April 2024 an die Gründung der GEHAG erinnern. Mit dabei sollen alle noch existierenden Organisationen sein: Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung, Baugenossenschaft Ideal, Bundesverband der AOK, Baugenossenschaft Freie Scholle Tegel, Arbeiter-Baugenossenschaft Paradies, Wohnungsbauverein Neukölln, Verdi und IG Bau. Die IG Bergbau-Energie-Versorgung, vertreten durch Rolf Erler, wird dazu den großen Versammlungssaal des Gebäudes zur Verfügung stellen, in dem Martin Wagner und August Ellinger 1924 die GEHAG gegründet hatten.

Steffen Adam ist Architekt und Bauhistoriker, seit über 25 Jahren tätig mit dem Schwerpunkt anspruchsvoller Planungs- und Bauaufgaben zur Umnutzung und Erweiterung von Bestands- und Wohngebäuden. Er ist Mitglied des Vorstandes des Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin-Brandenburg, der sich gegenwärtig dem Thema 100 Jahre GEHAG widmet.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.