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Magnus Hirschfeld: Das Dilemma der Emanzipation

Vor gut 100 Jahren zerstörten die Nazis das Werk von Magnus Hirschfeld. Als Sexualwissenschaftler trat er für Homosexuellenrechte ein, bediente sich dabei jedoch auch rassistischer und eugenischer Denkmuster

  • Julius Twardowsky
  • Lesedauer: 6 Min.
Magnus Hirschfeld (rechts) mit Li Shiu Tong, einem seiner beiden Partner, mit denen er bis zu seinem Tod zusammenlebte.
Magnus Hirschfeld (rechts) mit Li Shiu Tong, einem seiner beiden Partner, mit denen er bis zu seinem Tod zusammenlebte.

»Unter tiefster seelischer Erschütterung« erfuhr der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld im Mai 1933 im Pariser Exil von der Zerstörung seines Lebenswerks, des Berliner Instituts für Sexualwissenschaften. Das Institut war eine bis dahin einzigartige Einrichtung mit dem Ziel der umfassenden Sexualaufklärung. Seine Programmatik beinhaltete dabei auch die Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von Homo- und Transsexualität.

Die Plünderung wurde im Rahmen der »Aktion wider den undeutschen Geist« von den Nationalsozialisten geplant und durchgeführt. Ihren unrühmlichen Höhepunkt fand das mehrwöchig angelegte Medienspektakel in der am 10. Mai 1933 orchestrierten Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz, die sich diesen Mai zum 90. Mal jährte. Ein überwiegender Anteil der Bücher, die dort in Flammen aufgingen, stammte aus den Sammlungen der sexualwissenschaftlichen Spezialbibliothek des Instituts.

Dass die Vernichtung des Instituts einen zentralen Stellenwert innerhalb der Propagandaaktion einnahm, ist kein Zufall. Wie der Medizinhistoriker Rainer Herrn in seiner einschlägigen Studie zur Institutsgeschichte anmerkt, wurden Hirschfeld sowie sein Institut von den Nazis »geradezu zum Symbol des auszulöschenden Weimarer Geistes stilisiert«. Als Sozialist, Jude und Homosexueller war Hirschfeld schon lange vor der Machtübernahme zum nationalsozialistischen Feindbild schlechthin geworden.

Dem Ende des Instituts ging eine langjährige Hetzkampagne voraus, die explizit auf die Person Hirschfeld gerichtet war. Schon 1920 wurde er nach einem Vortrag in München von »völkischen Rowdys« niedergeschlagen und schwer verletzt. Die zunehmende Gefahr, die in Deutschland für Hirschfelds Wohlergehen bestand, veranlasste ihn dazu, im Dezember 1930 eine Vortrags- und Studienreise in die USA anzutreten. Letztlich zur Weltreise ausgedehnt, sollte er von dieser nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.

Während der Weltreise, die ihn ausgehend von den USA durch weite Teile Asiens bis nach Palästina führte, hielt Hirschfeld seine Erlebnisse in einem Reisebericht fest, der 1933 unter dem Titel »Die Weltreise eines Sexualforschers« im Schweizer Exil erschien. Heute gilt dieser Bericht als einer der Gründungstexte der modernen Sexualethnologie; nebenbei enthält er wichtige biografische Aspekte aus Hirschfelds letzten Lebensjahren.

Darunter findet sich Hirschfelds Auseinandersetzung mit den Schrecken der Kolonialherrschaft und des europäisch-amerikanischen Imperialismus, die er nun zum ersten Mal hautnah erfahren konnte und die ihn zu einem entschiedenen Gegner des Kolonialsystems und des damit verbundenen Rassismus werden ließen. Doch das Ganze kommt nicht ohne Paradoxon aus: Autor*innen wie Laurie Marhoefer haben kürzlich darauf hingewiesen, wie viel Hirschfelds sexualwissenschaftliche Arbeiten der Existenz des Kolonialsystems verdanken und wie eng seine Konzeption von Homosexualität mit dem Rassismus seiner Zeit verwoben ist.

Zeitlebens war es Hirschfelds politisches und wissenschaftliches Ziel, Homosexualität zu entstigmatisieren und zu entkriminalisieren. Dazu erachtete er es als nötig, Homosexualität als natürliche Gegebenheit zu begründen und dies für wissenschaftlich nachweisbar zu erklären. Zu diesem Zweck entwickelte er schon in seinen frühesten Publikationen eine sexualwissenschaftliche »Zwischenstufentheorie«, der zufolge es keinen strikten Geschlechterdualismus von »Mann« und »Frau«, sondern ein fluides Spektrum von hochgradig individuellen sexuellen Mischungsverhältnissen gibt. Gleichgeschlechtliches Begehren sei demzufolge ein Ausdruck natürlicher sexueller Variabilität.

Um diese Theorie zu stützen, bezog sich Hirschfeld auf Daten, die in den Kolonien gewonnen wurden. Im Buch »Die Homosexualität des Mannes und des Weibes« beschreibt er ausführlich das Vorkommen von Homosexualität auf der ganzen Welt und stützt sich dazu vornehmlich auf Erfahrungsberichte, die er teils direkt von Angehörigen der Kolonialadministration erhielt. Diese Daten sollten zeigen, dass Homosexualität ein natürlich-biologisches Phänomen mit weltweiter Verbreitung ist und kein Ausdruck einer lokalen Degenerationserscheinung der »überzivilisierten« westlichen Gesellschaft, wie es in reaktionären Kreisen hieß. Für Hirschfeld war klar, dass Homosexualität unabhängig vom Grad der Zivilisiertheit oder von der »Rasse« einer Menschenpopulation vorkommen kann.

Der Versuch, Homosexualität durch wissenschaftliche Deutungsmuster zu naturalisieren, um sie zu entpathologisieren, sie also als wesenhaft zu begreifen, ist ein heikles Unterfangen, das Hirschfelds Denken unmittelbar in die Nähe rassistischer Argumentationsmuster führte. Um die Universalität von Homosexualität zu behaupten, musste sich Hirschfeld auf die Kategorie »Rasse« stützen, die er an anderer Stelle kritisierte. Für ihn war »Rasse« ein zwar problematisches, aber unverzichtbares wissenschaftliches Modell zur Typologisierung von Menschen anhand äußerer Merkmale, etwa der Hautfarbe. Daraus ließ sich für Hirschfeld zwar keine biologistische Hierarchisierung in höher- oder minderwertige »Rassen« ableiten; er folgte jedoch der klassisch eurozentrischen Unterscheidung von Natur- und Kulturvölkern, die einen intrinsischen Zusammenhang von Weiß- und Europäischsein und technischer wie kultureller Fortschrittlichkeit behauptete.

Hirschfelds Anliegen erscheint aus heutiger Sicht widersprüchlich. Um die Position des Degenerationsdiskurses weiter zu entkräften, wonach Homosexualität eine pathologische Erscheinung darstelle, führt er das homosexuelle Subjekt selbst in diesen Diskurs ein. Dazu bediente er sich der Argumentationslogik und des Vokabulars der Eugenik, der Lehre vom gesunden Erbgut, die unter den Nationalsozialisten auch Rassenhygiene genannt wurde und dort die Vernichtung als »unwert« charakterisierter Menschen vorsah.

Hirschfelds Beziehung zur Eugenik ist daher in der Rezeptionsgeschichte ein umstrittener Punkt. Die Eugenik galt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch weithin als wissenschaftliche Avantgardedisziplin und fand durch die politischen Lager hinweg breite Anerkennung. Die Bezugnahme auf das eugenische Denken machte für die Sexualwissenschaftler*innen in diesem Kontext gerade die Modernität des noch jungen Faches aus und verhalf Hirschfelds Schriften zur nötigen wissenschaftlichen Wahrnehmung.

Die Anhänger der Erbgesundheitslehre fanden in dieser die technischen Möglichkeiten gegeben, die menschliche Fortpflanzung auf Ebene der Bevölkerungspolitik zur Besserung des gesellschaftlichen Ganzen zu beeinflussen. Dies setzte die Annahme von »erwünschten« bzw. »unerwünschten« Erbanlagen voraus, die es, je nachdem, zu vermehren bzw. zu vermindern galt. Auch Hirschfeld unterwarf sich dieser Logik, wenn er den Homosexuellen eine besondere Funktion innerhalb dieses Diskurses zuwies: Homosexualität galt für ihn als eine Art Barriere gegen die Weitergabe degenerativen Erbmaterials einer Familie, da homosexuelles Begehren qua Natur nicht auf die Weitergabe von Genen abziele. Er ging dabei davon aus, dass Homosexualität vor allem oder zumindest häufiger in Familien mit einer Häufung von »Degenerationserscheinungen« auftreten würde.

Für Hirschfeld galt damit bestätigt, dass Homosexualität dem eugenischen Programm als solchem förderlich war und die Eugenik wichtige Argumente für die Homosexuellen-Emanzipation liefern konnte. Die Nähe zwischen Homosexualität und Degeneration, die die Eugenik behauptete, löste Hirschfeld also trotz seiner emanzipatorischen Absichten nicht auf.

Der Kampf des Sexualwissenschaftlers für die Befreiung Homosexueller stieß an die Grenzen des zu seiner Zeit Denk- und Sagbaren, was zu einem Dilemma führte: Die sexuelle Anerkennung der einen war für Hirschfeld nicht ohne die Rassifizierung und Pathologisierung der anderen zu haben.

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