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Lieber Kneipe oder erotisches Kabinett?

»Malfi!« am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz ist ein immersives Spektakel – und ein Lehrstück über den Gebrauch der Fantasie im Game-Zeitalter

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Vergnügen, in fiktive Welten einzutauchen, hat in den vergangenen Jahren keineswegs abgenommen, auch wenn man das gerade im Theater selten zur Kenntnis nimmt. Sowohl Fantasiereiche mit Drachen, Elfen und Zwergen wie »Herr der Ringe« oder »Game of Thrones« als auch der Alltag von Gangstern, Polizisten und Politikern wie in »The Wire« begeistern ganze Generationen. Eine Modeerscheinung? Mitnichten. Bereits Honoré deenri Balzacs »Menschliche Komödie« ist eine riesige Fantasiewelt. Trotz der erstaunlichen Ähnlichkeiten mit dem Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts war dessen Opus die Kopfgeburt eines genialen Schriftstellers.

Nun kann man sehr wohl rätseln, ob das Eintauchen als Eskapismus und somit als Folgeerscheinung eines unerträglichen oder bloß unerträglich langweiligen Lebens abzustempeln ist. Dagegen spricht, dass das Eintauchen in erfundene Welten keine selbstvergessene Flucht aus der Wirklichkeit ist. Im Gegenteil: Diese Welten haben ihre in sich realistische Logik oder sogar miteinander im Streit liegende Logiken. Und ja, es gibt klüger, besser und schöner gebaute Welten und den Rest. Doch oft ist es eher der alte oder nicht so alte Vorbehalt gegen die Fantasie, der sich gegen die Fantasiewelten richtet, egal wie gut sie sind.

Eine ausgesprochen fantasiefeindliche Art des Eintauchens – heute meist Immersion genannt – bieten die fürs sogenannte Teambuilding beliebten Escape Rooms. Eintauchen heißt hier nicht mehr und nicht weniger, als gemeinsam eingesperrt zu werden und zu versuchen, sich aus dieser höchst misslichen Lage selbst zu befreien – ein simuliertes Schützengrabenerlebnis für die postheroische Postmoderne. Wie man es – viel! – besser macht, zeigt das Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz mit »Malfi!«. In einem alten Güterbahnhof kann das Publikum eine begehbare Bühnenwelt frei erkunden.

Wer weiß, wie Open-World-Computerspiele, etwa »The Witcher« oder »Red Dead Redemption«, aber auch die alten Dungeons-and-Dragons-Klassiker des Rollenspielgenres funktionieren, ist klar im Vorteil. Auch dort geht es um die Erkundung einer gigantischen oder gar endlosen Welt mit verschiedenen Aufgaben. Was ist ein Main Quest oder ein Side Quest? Leute mit entsprechender Erfahrung wissen natürlich, dass es nicht allein darauf ankommt, die Hauptaufgaben zu lösen, sondern dass die schönsten Aufgaben jene am Rande des Geschehens sein können. Die erste Regel lautet: Man entscheidet selbst, was wichtig ist. Und: Es gibt immer einen Weg, der weiterführt.

Einschlägige Erfahrungen braucht man letztlich jedoch nicht, Neugier allein reicht. Wird man den Geheimgang entdecken, der von dem prächtigen Palast des Kardinals zu seinem erotischen Kabinett führt? Von dort blickt man durch einen venezianischen Einwegspiegel in den dahinterliegenden Strip-Club, durch die Garderobe führt der Weg auf den Marktplatz mit Schenke, in der man sich bei Bier und zotigen Liedern amüsieren kann. Vorbei an einem Sargmacher und einer Gummizelle geht es in einen kleinen Wald mit See. Und es gibt immer noch mehr Räume zu entdecken, in denen getanzt, gesungen oder gespielt wird.

Daniel Morgenroth, seit zwei Jahren Intendant in Görlitz und Zittau, hat das »immersive Theatererlebnis« inszeniert. Die Vorlage lieferte John Webster mit »Die Herzogin von Malfi«, einem düster-derben Drama aus der Shakespeare-Zeit, das die zutiefst korrupte, heuchlerische und kaputte Welt der herrschenden Klassen zeigt. Dass die Dame ihre Liebe nicht den Interessen des Hofes unterordnet, wird von ihren Brüdern (einer ist der Kardinal) barbarisch bestraft: Ihre drei Kinder werden ermordet. Es wird intrigiert, was das Zeug hält, Spitzel und Spione durchsetzen den an Niederträchtigkeiten auch sonst nicht gerade armen Staat.

Solange man nicht nur in der Kneipe sitzt (wogegen nichts spricht!), sucht man sich die Handlung selbst zusammen – mit einigen echten Überraschungen. Dass das enorme Freude macht, liegt schon an der überwältigenden Welt, die die Haustechnik erbaut hat. Kaum ist es nach einem fulminanten Finale mit großem Chor und zahlreichen Tänzern vorbei, will man sofort von vorne beginnen. Wenn Eintauchen dies bedeutet, nämlich die fast detektivische Neugier auf eine Fantasiewelt zu wecken, die in ihrer Kaputtheit unserer Welt nicht unähnlich ist, dann ist das nicht nur großes Theater, sondern auch ein starkes Lehrstück über den Gebrauch der Fantasie im Zeitalter der Games. Wer nämlich klug eintaucht, taucht auch klüger wieder auf.

Nächste Vorstellungen: 17., 23. und 25. Juni
www.g-h-t.de

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