»Afropollination«-Festival: Was sind denn das für Beats?

In Berlin bietet das »Afropollination«-Festival einen atemberaubenden Querschnitt durch neueste afrikanische Clubmusik

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 5 Min.
»Ich folgte dem Sound, und als ich das Studio endlich gefunden hatte, wurde ich gleich eingeladen, etwas zu der Musik zu improvisieren«: Bingi (l.) im Studio.
»Ich folgte dem Sound, und als ich das Studio endlich gefunden hatte, wurde ich gleich eingeladen, etwas zu der Musik zu improvisieren«: Bingi (l.) im Studio.

Populäre Musik im weiteren Sinne hat sich immer wieder ganz wesentlich aus der sogenannten Peripherie heraus erneuert, geografisch, aber auch sozial. Blues, Jazz, Reggae, Hip-Hop formulierten ebenso wie der proletarische Heavy Metal Positionen jenseits der herrschenden Ideen, die mit Marx gesprochen stets die Ideen der Herrschenden sind. Deswegen lohnt sich auch aus ästhetischen Gründen immer wieder der Blick über den eigenen Tellerrand.

Derzeit muss man dafür zum Glück gar nicht weit reisen: Das Projekt »Afropollination« zeigte in den vergangenen Tagen in Hamburg auf der MS Stubnitz einen reichlich atemberaubenden Querschnitt durch aktuelle afrikanische Clubmusik-Entwicklungen, einschließlich der dazugehörigen Tanzformen. Und erkundet dabei die Möglichkeiten, die sich aus der wechselseitigen Befruchtung ergeben: »Pollination« ist das englische Wort für Bestäubung, die Übertragung der Pollen bei der Fortpflanzung von Pflanzen. Am kommenden Samstag und Sonntag wird das Festival im Festsaal Kreuzberg in Berlin veranstaltet.

Schon im Winter dieses Jahres waren Künstler und Künstlerinnen aus Uganda, Kongo, Tansania, Mali, Ruanda, Südafrika, aber auch aus der Diaspora in Deutschland, um auf dem CTM-Festival in Berlin Performances zu präsentieren, die sie gemeinsam mit europäischen Kollegen und Kolleginnen entwickelt hatten.

Seinen Ursprung hat »Afropollination« im Umfeld des mittlerweile weit über Uganda hinaus bekannten Nyege Nyege Festivals. Organisiert wird es von dem namensgebenden Kollektiv Nyege Nyege aus Kampala (Uganda), das in Jinja am Victoriasee seit 2015 alljährlich avancierte elektronische Musik präsentiert und auf dem hauseigenen Label Nyege Nyege Tapes sowie dem Sublabel Hakuna Kulala vor allem ostafrikanische Künstler veröffentlicht. Die Berliner Agentur Piranha Arts fungiert als europäischer Brückenkopf für das Projekt, das unter anderem von der Bundeskulturstiftung gefördert wird.

Bereits vor den Veranstaltungen in Deutschland hatte das Kollektiv Nyege Nyege eine ziemlich kreative Schar von Künstlern aus verschiedenen Disziplinen nach Kampala eingeladen, um in verschiedenen Kombinationen miteinander zu arbeiten, woraus sich während einer einwöchigen Residenz spontan weitere Kombinationen ergaben, berichtet Sheja Cheryl aus Ruanda, die unter dem Namen Binghi auftritt. Die kreative Atmosphäre in der Nyege-Nyege-Villa beschreibt sie mit einer kleinen Anekdote: »Eines Nachts arbeitete ich mit dem DJ MP3 aus Südafrika an einem Song, als ich auf Toilette musste. Auf dem Weg dorthin hörte ich Musik aus einem anderen Studio, und der Beat war so gut, dass ich unbedingt wissen wollte, wer das war. Ich folgte dem Sound, und als ich das Studio endlich gefunden hatte, wurde ich gleich eingeladen, etwas zu der Musik zu improvisieren.«

Die Resultate der gemeinsamen Arbeit zeugen von einem schier unerschöpflichen kreativen Potenzial und sind stets mindestens interessant, sehr viel häufiger aber ebenso mit- wie hinreißend – und in den besten Fällen von geradezu überwältigender Energie. Beispielhaft sei die ghanaisch-französische Musikerin PÖ, genannt, die über einen explosiven Mix aus Industrial, Hip-Hop, Blues und afrikanischem Pop elektronisch verfremdete und multiplizierte Vokaleskapaden abfeuert. Eine weitere Attraktion sind die Produzenten Jay Mitta und Sisso aus Daressalam, zwei der wichtigsten Protagonisten des Singeli. So heißt eine radikal beschleunigte Version des traditionellen Taarab, die sich in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren in den Ghettos von Daressalam entwickelt hat und heute nicht nur im Getriebe der tansanischen Metropole allgegenwärtig ist.

In rasend schnellen Tempi zwischen 200 und 300 Beats pro Minute rappen im Singeli MCs beiderlei Geschlechts auf Suaheli »von Armut, Arbeitslosigkeit und der Ekstase der samstäglichen Kidogoro-Partys«, wie es der Journalist Jonathan Fischer umschreibt. Gemeinsam mit der Wahlberliner Produzentin Zoë Mc Pherson und den tansanischen Tänzerinnen Zai und Nana werden Mitta und Sisso auch am kommenden Wochenende unwiderstehliche Energieschübe freisetzen. Und ähnlich rasant geht es auch zu, wenn DJ Diaki aus Bamako seinen Balani Fou, das malische Pendant zum Singeli, zelebriert.

Mit den bereits erwähnten Binghi und Natacha Miziguruka stehen übrigens gleich zwei Künstlerinnen auf dem Programm, die vor Kurzem in dem afrofuturistischen Film »Neptune Frost« von Saul Williams und Anisia Uzeyman als Schauspielerinnen zu sehen waren. In eher dystopischen Soundscapes mit massiven Bässen erzählen sie von gewaltvollen Verhältnissen, was auch daran erinnert, dass diese Musik aus einer Region kommt, in der es wahrlich nicht immer gemütlich zugeht – man denke nur an das kürzlich verabschiedete ugandische Gesetz gegen Homosexualität. Derek Debru, einer der Köpfe des Nyege-Nyege-Kollektivs, berichtete am Rande der Hamburger »Afropollination«-Ausgabe vor einigen Tagen von mehreren queeren befreundeten Künstlerinnen und Künstlern, die derzeit versuchen, Uganda zu verlassen.

Bereits im vergangenen Jahr geriet auch das Festival in den Fokus politischer Auseinandersetzungen: Konservative Kreise in Kampala hatten versucht, das Nyege Nyege zu verbieten, weil es ein »Nährboden der Unmoral« sei. Dessen Befürworter im Parlament argumentierten schließlich erfolgreich unter anderem mit den positiven Effekten auf die Volkswirtschaft. Was recht treffend den Status des Netzwerks umreißt: »Sie mögen uns – und sie mögen uns auch nicht«, bringt es Debru auf den Punkt, der vor zwölf Jahren aus Belgien nach Kampala kam. Weitgehend werde man in Ruhe gelassen. Mit den oft experimentellen Klängen eignet sich Nyege Nyege einerseits nicht unbedingt für eine Vereinnahmung durch die Politik. Andererseits bringt das Festival Tausende von Touristen und Touristinnen ins Land. Und politisch lehne man sich nicht allzu weit aus dem Fenster. Im August habe er sogar einen Termin beim Präsidenten, erzählt Debru.

Derweil zieht das Nyege-Nyege-Netzwerk international immer weitere Kreise. Künstler und Künstlerinnen aus weiteren afrikanischen Ländern sind zuletzt dazugestoßen wie die kamerunisch-französische Produzentin und Rapperin Violence Gratuite, während Festivals wie das »LeGuessWho?« in Utrecht, das »Primavera Sound« in Madrid, das Roskilde-Festival in Dänemark und das »Illuminate / Unsound« im australischen Adelaide Künstlerinnen und Künstler von Nyege Nyege Tapes und dessen Sublabel Hakuna Kulala buchen. Während im Juli in Paris gar eine europäische Ausgabe des Festivals gefeiert wird. Weil das alles für das Kollektiv auch eine Menge Arbeit bedeutet, wurde das Festival in Jinja in diesem Jahr übrigens vom September in den November verschoben. Es sieht ganz so aus, als führe auch in Sachen Musik an Afrika kaum ein Weg vorbei.

»Afropollination«-Festival: Samstag ab 21 Uhr und Sonntag ab 16 Uhr im Festsaal Kreuzberg, Berlin

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