17. Juni 1953: Sie wollten sich nicht bevormunden lassen

Der Unmut der Arbeiter, das Versagen der Partei und fatale Zeitläufte

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist schon seltsam: Wir befinden uns inmitten einer multiplen Krise – Klimawandel, Erschütterungen nationaler Wirtschaften, Verfall demokratischer Institutionen inklusive massiver Rechtswendung in vielen Staaten, Krieg in der Ukraine ... – und doch schauen wir unverdrossen in die Vergangenheit.

Es scheint sich nicht viel verändert zu haben. Im Westen und im vereinten Deutschland ist laut Duktus der tonangebenden Eliten der 17. Juni 1953 Beleg für das Scheitern von DDR und SED. Mit der Formel, damals seien in ostdeutschen Städten und Gemeinden vehement freie Wahlen eingefordert worden, wird impliziert, dass es um den Bruch mit dem Sozialismus und den Kampf für ein vereintes Deutschland ging. Die Streikenden in der Berliner Stalinallee wurden und werden mit der Aura von Freiheitskämpfern umgeben. Fünf Jahre zuvor, bei den sogenannten Stuttgarter Vorfällen und einem Generalstreik in den Westzonen Deutschlands gegen die sozialen Folgen der Währungsreform 1948, waren die Streikenden hingegen als »Agenten Moskaus« diffamiert worden.

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Doch auch die Führung von SED und DDR machte es sich mit der Behauptung eines »faschistischen Putsches« einfach, nachdem der Protest von etwa einer Million Menschen in 700 Städten und 600 Betrieben durch sowjetische Panzer niedergewalzt worden war und »Ruhe und Ordnung« durch einen Ausnahmezustand mit zahlreichen Verhaftungen und quasi standrechtlichen Verurteilungen vor DDR-Gerichten oder sowjetischen Militärtribunalen hergestellt worden waren. Beide Versionen der Interpretation des 17. Juni 1953 werden der historischen Wahrheit nicht gerecht. Auf der Strecke blieben 55 Tote und zerstörte Biografien.

Die Ereignisse minutiös aufzulisten, dürfte sich erübrigen dank medialen Erinnerungs- und Gedenkmarathons. Dennoch seien hier Schlaglichter auf einige markante Episoden geworfen. So fiel erstmals während einer Dampferfahrt der Bauarbeiter des Berliner Krankenhauses Friedrichshain auf der Spree am 13. Juni 1953 der Beschluss, gegen die Anfang des Monats von der SED verkündeten zehnprozentigen Normerhöhungen zu streiken. Ein Artikel in der Gewerkschaftszeitung »Tribüne«, der noch am 16. Juni die administrativ verfügte Maßnahme als »in vollem Umfang richtig« verteidigte, sollte das Fass zum Überlaufen bringen. Die Emotionen wallten auf. Nun wurden auch Gefängnisse gestürmt, wobei es zu Todesopfern kam. Bereits auf einer Trauerkundgebung vor dem Westberliner Rathaus Schöneberg am 19. Juni wurden die aufständischen Ostdeutschen zu Vorkämpfern der Einheit stilisiert.

Die spontane Erhebung von Arbeitern und Arbeiterinnen in der DDR in den Junitagen 1953 ist in größeren historischen Zusammenhängen zu sehen. Auch die in der Geschichte der SED ziemlich einzigartige selbstkritische Einschätzung des ZK vom 21. Juni, inspiriert von dem aus der Sozialdemokratie stammenden Ministerpräsident Otto Grotewohl, vermittelt nur einen Ansatz zur Erklärung: »Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter!« Zumal diese Selbstkritik unter der Formel von SED-Generalsekretär Walter Ulbricht, dass die »Fehler im Vorwärtsgehen zu überwinden seien«, alsbald in der Versenkung verschwand.

Auch wenn in Jalta und in Potsdam 1945 die Claims in Europa und der Welt im Groben zwischen den Hauptsiegermächten über die Staaten der faschistischen Achse abgesteckt worden waren, tobte alsbald ein neuer Weltordnungskrieg, der die von den USA und der UdSSR geführten Blöcke mit Wucht aufeinanderprallen ließ. Der Kampf wurde mit Waffen, wirtschaftlichen Mitteln, Propaganda und Geheimdienstpraktiken ausgetragen. Auf der koreanischen Halbinsel entbrannte ein heißer Krieg. In den Vereinigten Staaten hatte Senator McCarthy zur Hexenjagd auf Kommunisten geblasen. Von all dem wurden auch die beiden deutschen Staaten beeinflusst. Die DDR in besonderem Maße, da Partei- und Staatschef Walter Ulbricht und seine Genossen begreifen mussten, dass Moskau nicht nur der sozialistischen Idee, sondern auch nüchternem Großmachtkalkül folgte.

Mit den Stalin-Noten 1952 stand die DDR zur Disposition. Die Hoffnung Moskaus, die westlichen Integrationsabsichten für die BRD einschließlich ihrer militärischen Potenziale mit dem Vorschlag zur Wiederherstellung eines einigen Deutschlands aufzuhalten, zerplatzte. Die SED-Führung konnte im Sommer 1952 aufatmen und verkündete auf ihrer 2. Parteikonferenz, selbst Moskau ein wenig überfahrend, den »Aufbau der Grundlagen des Sozialismus«. Sie wollte klare Verhältnisse: einen zentralisierten Staat, Abschaffung der Länder, dafür klar unterstellte Bezirke, Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht nur in der Industrie sowie Kollektivierung auf dem Lande. Die ideologische Konkurrenz der Kirchen und ihrer Jungen Gemeinden sollte klein gehalten werden. »Verschärfung des Klassenkampfes« war Anspruch und Erwartung. Man ging davon aus, dass die Arbeiter diesen Kurs für »ihren« Sozialismus mittragen würden. Aber bevormunden lassen wollte sich die Klasse nicht.

Angesichts des Korea-Krieges, dortiger Verwüstungen und Massaker erschienen der SED-Führung die sowjetischen Vorgaben zur Herstellung der Kriegsbereitschaft auch in der DDR, wie des gesamten Ostblocks, legitim. Die DDR sollte nicht nur über eigene Streitkräfte, eine Nationale Volksarmee (NVA), verfügen und einen sozialistischen Arbeitsdienst (»Dienst für Deutschland«) auf die Beine stellen, sondern auch eine eigene Rüstungsindustrie aufbauen, was sogar den Bau von U-Booten einschloss. All dies war nicht gleichzeitig zu erfüllen. Die Wirtschaftskraft der DDR war angesichts von Kriegszerstörungen und allein von ihr geschulterten Reparationen noch zu gering. Gut ein Fünftel des Staatshaushalts waren für die Aufrüstung und neue Sicherheitspolitik nebst den Kosten für die sowjetischen Besatzungsorgane veranschlagt. Auch wegen der forcierten Kollektivierung, der Massenflucht und Missernten stand die Versorgung der Bevölkerung in Frage. Die Erwartung, durch einen restriktiven Kurs gegen kleinere Kapitalisten, Gewerbetreibende und Händler den Staatshaushalt aufzupäppeln, erwies sich als fatal. Im Gegenteil, der Entzug der Lebensmittelkarten, die Verteuerung der Bahntarife auch für Pendler und Preiserhöhungen, beispielsweise für Marmelade, und dies ebenfalls in den staatlichen HO-Läden, ließen das Defizit nicht schrumpfen. Es schien nur einen Ausweg zu geben: Die Arbeiterklasse in die Pflicht zu nehmen.

Die DDR hatte bis dahin auf freiwillige Normerhöhungen und materielle Anreize gesetzt wie etwa warmes Betriebsessen für Aktivisten. Nun wurde Klartext geredet. Die Normerhöhungen, durch den Ministerrat dekretiert, sollten den Durchbruch bringen. Die Arbeiter – egal, ob neu zur Klasse gelangt durch das Ende von Nazi- und Wehrmachtsstrukturen oder mit familiärem Wurzeln in der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung – hatten die Konsequenzen zu erleiden: faktische Lohnkürzungen und sinkende Konsumangebote zugunsten einer forcierten Schwerindustrie. Unter der alten Losung der Arbeiterbewegung »Akkord ist Mord« gingen sie in den Ausstand. Neben der Zurücknahme der Normerhöhungen forderten die Streikenden freie Gewerkschaften und Betriebsräte sowie teilweise den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen.

Die Geschichte des realen Sozialismus ist seit dem Aufstand der Matrosen von Kronstadt 1921 in der jungen Sowjetrepublik von Krisen begleitet, die vereinfacht mit dem Etikett »Entstalinisierungsbemühungen« versehen werden könnten. Im Kern ging es immer um das Überwinden einer hyperzentralisierten, inflexiblen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik seitens der sich allwissend dünkenden kommunistischen Partei. Der 17. Juni in der DDR ist sicher der spektakulärste Vorgang, zumal er vor der Nase des Westens, des konträren Gesellschaftssystems stattfand. Gleichzeitige Unruhen und Erhebungen etwa in den Lagern des sowjetischen Gulag, in Bulgarien oder im tschechoslowakischen Plzeň sind vergessen.

Die Verordnung eines Neuen Kurses, den das Präsidium der KPdSU Anfang Juni 1953 Ulbricht und Genossen in Moskau im wahrsten Sinne des Wortes in die Feder diktiert hatte, ging einher mit Direktiven für die anderen Verbündeten, die damals jedoch vielleicht geschickter als die Führung der DDR agierten und ihre Gesellschaftskrise, etwa in Ungarn oder in der ČSSR um drei beziehungsweise 15 Jahre hinauszögern konnten. Die Überwindung der entscheidenden Defizite des Realsozialismus, nämlich mangelndes oder gänzlich fehlendes Vertrauen sowie eine ungenügende demokratische Verbindung von Partei, Arbeiterklasse und werktätigen Massen, gelang letztlich nirgends.

Das gilt gleichwohl für alle linken Reformversuche, egal ob in Ost oder West. Unter den Bedingungen einer erbittert geführten Systemauseinandersetzung war ihnen kaum eine Chance gegeben. Besonders verheerend wirkte sich dies im Iran 1953 mit dem von der CIA finanzierten Sturz des progressiven Premiers Mohammad Mossadegh aus, in Indonesien 1965 mit der massenweisen Abschlachtung von Kommunisten oder 1973 mit dem Putsch in Chile gegen die Volksfrontregierung unter Salvador Allende. Für den Osten stehen hier als verhängnisvolle Zäsuren die Jahre 1956 und 1968, als dann auch in Budapest und Prag Proteste und Reformen durch sowjetisches Eingreifen erstickt wurden.

Aber auch der Aufbruch zu einem demokratischeren Sozialismus 1989 in Osteuropa sollte scheitern, wenngleich überwiegend ohne den Einsatz von Gewalt. Er führte stattdessen zu einem veritablen Systemwechsel, hin zu einem nun wieder offen räuberischen Kapitalismus. Eine endlose Geschichte der Niederlagen, guter Absichten und hoffnungsvoller Alternativen. Das Dilemma der Linken in Ost wie West besteht darin, keinen optimalen Weg zu einer wahrhaft gerechten und zugleich freien Gesellschaft gefunden zu haben. Einen solchen zu finden, bleibt die Herausforderung.

Dr. Stefan Bollinger ist Mitglied der Historischen Kommission der Linken.

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