17. Juni 1953: Höhere Normen und soziale Ansprüche

Die Steigerung der Arbeitsproduktivität war für die DDR zeit ihrer Existenz eine ebenso schwierige wie existenzielle Frage

  • Lutz Brangsch
  • Lesedauer: 4 Min.

Meist werden die Ereignisse im Umfeld des 17. Juni 1953 vor allen Dingen als politische Erschütterung wahrgenommen. Dahinter stand, und das ist breit diskutiert, auch eine ökonomische Krise. Die Wirtschaft der jungen DDR war nicht in der Lage, die Anforderungen, die aus den sozialen Ansprüchen, den Notwendigkeiten der Rekonstruktion des wirtschaftlichen und sozialen Lebens sowie den Reparationen resultierten, gleichzeitig zu meistern. Es war einfach unmöglich, die Bedingungen für produktives Wirtschaften zu schaffen.

Das Scheitern des Versuchs, durch eine Erhöhung des Leistungsdrucks auf die Arbeiterinnen und Arbeiter die offensichtlichen Defizite der Wirtschaftspolitik zu kompensieren, verweist auf ein Problem, das die DDR über die gesamte Zeit ihrer Existenz begleitete: Wie erreicht man eine schnelle Steigerung der Produktivität der Arbeit, ohne dabei soziale Ansprüche aufzugeben? Dass das keinesfalls so einfach ist, hatten die Entwicklung der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren sowie das Beispiel der ungarischen Räterepublik bereits gezeigt. In beiden Fällen blieb die Entwicklung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse hinter der anderer sozialer Schichten zurück.

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Der marxistische ungarische Ökonom Eugen Varga betrachtete das sogar als eine Gesetzmäßigkeit revolutionärer Umbrüche. Das stand nun aber in eklatantem Widerspruch zu der deklarierten Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus. Der Satz Lenins, dass die Arbeitsproduktivität letztendlich das Entscheidende für den Sieg des Sozialismus sei, und seine Forderung, dafür die modernste Technik und die modernsten Technologien anzuwenden, ließen allerdings offen, wie man diese Überlegenheit praktisch erreichen könnte. Auch blieb offen, was Arbeitsproduktivität eigentlich konkret ist und wie sie gemessen werden könnte.

Der bekannte DDR-Ökonom Fritz Behrens sagte 1959 auf einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften: »Trotz der großen Bedeutung, die der Steigerung der Arbeitsproduktivität überhaupt und besonders bei uns beigemessen werden muss, kann man nicht behaupten, dass die zahlreichen Einzelfragen, ja nicht einmal alle Grundfragen so weit geklärt sind, dass unter den Ökonomen übereinstimmende Auffassungen darüber bestehen.«

Einigkeit bestand darin, dass Arbeitsproduktivität die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit beschreibt. Es geht um das Verhältnis zwischen dem Aufwand an menschlicher Arbeit und ihrem Ergebnis. Freilich knüpft sich daran eine Reihe von Fragen: Von welcher Arbeit reden wir eigentlich? Ist die Arbeit von Lehrer*innen hier zu berücksichtigen oder nur die Arbeit, die in Fabriken, Bergwerken, auf dem Feld usw. geleistet wird? Das ist keinesfalls eine akademische Frage. Von der Antwort darauf hängt ab, wie die Mittel des Staatshaushaltes zu verteilen sind, wo die Kriterien für die Bezahlung von Verwaltungsangestellten, Wissenschaftler*innen oder eben auch Lehrer*innen gefunden werden könnten. Und wie ist das Ergebnis zu beschreiben? Wie kann man nicht nur die geschaffenen materiellen Güter, sondern auch die ideellen Güter (Wissen, Gesundheit, Kunst, Kultur) erfassen und bewerten? Und selbst dann, wenn man sich in diesen Grundfragen einigen kann, bleibt zu klären, welche Faktoren die Entwicklung der Arbeitsproduktivität bestimmen.

Die Frage nach den Faktoren, die die Entwicklung der Arbeitsproduktivität bestimmen, und die nach den Ursachen der Krisen 1953 und 1989, verbinden sich an dieser Stelle. Ein Faktor der Arbeitsproduktivität ist die Intensität der Arbeit. Deren Erhöhung war Kern der Maßnahmen von 1953. Mit dem »Aufstand der Klasse« wurde klar, dass dieser Weg nur in sehr begrenztem Maße gegangen werden kann. Andere Faktoren der Erhöhung der Arbeitsproduktivität, wie die höhere Effektivität der Kombination der Arbeitsprozesse, die Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Produktion und die Modernisierung der Maschinen und Anlagen, mussten in den Vordergrund treten.

Dies war schon ein hinreichend kompliziertes Problem. Viel komplizierter jedoch war die Frage nach den moralischen Triebkräften der Produktivitätsentwicklung. Erst einmal muss ein Interesse bei denen, die Maschinen konstruieren, bestehen, diese auch unter dem Gesichtspunkt höherer Produktivität zu entwickeln. Das bedeutet auch, sie schnell zu konstruieren und in die Produktion zu überführen. Schließlich müssen auch die Arbeitskräfte da sein, die diese Maschinen bedienen können. Was aber, wenn qualifizierte Arbeiterinnen und Arbeiter nicht besser bezahlt werden als unqualifizierte? Wie ist unterschiedliche Bezahlung in solchen Konstellationen zu rechtfertigen, wenn unqualifizierte Arbeiten nicht weniger Anstrengung fordern als qualifizierte? Beide sind notwendig …

Dabei muss man in Rechnung stellen, dass ein großer Teil des Führungspersonals der frühen DDR (auch der späteren) aus dem Arbeiter*innenmilieu stammte. Die Werte und Normen dieses Milieus waren von der Opposition gegen die Zumutungen der kapitalistischen Unternehmer geprägt.

Der 17. Juni 1953 warf Fragen auf, die nicht einfach mit der Kritik einer stalinistisch geprägten Politik zu beantworten sind. Die Ereignisse hatten mit Problemen zu tun, die viel weiter reichen. Und diesen Fragen muss sich die Linke bis heute stellen.

Lutz Brangsch ist Ökonom und wissenschaftlicher Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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