- Kommentare
- EU
Lateinamerikas neues Selbstvertrauen
Jörg Gronauer über das Verhältnis der EU zu Lateinamerika
Die EU bleibt sich treu. Da hat sie jahrelang ihre Beziehungen zu den Staaten Lateinamerikas schleifen lassen, hat sich wenig dafür interessiert, was auf der anderen Seite des Atlantiks vor sich ging. Kaum aber stellt sich aber heraus, dass dort nicht alles so läuft, wie es den eigenen Interessen entspricht, fordert sie forsch eine enge Zusammenarbeit ein. Vergangene Woche widmete sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem Hauptstadthopping auf dem Subkontinent, flog nach Brasília, nach Buenos Aires, Santiago de Chile und Ciudad de México. Ihre Botschaft: »Europa meldet sich zurück in Lateinamerika.« Noch im selben Atemzug ließ sie ihre Forderung folgen: »Es ist an der Zeit, unsere strategische Partnerschaft auf die nächste Stufe zu heben.«
Partnerschaft? Nun, es hat sich in den vergangenen Jahren in Lateinamerika viel verschoben. Abgesehen von Mexiko, das US-amerikanische, aber auch deutsche Konzerne nach wie vor als Niedriglohnstandort für die Herstellung von Produkten für den US-Markt nutzen, ist auf dem Subkontinent inzwischen China zum bedeutendsten Handelspartner aufgestiegen. Dies und jahrelanges Desinteresse nicht nur der EU, sondern auch der Vereinigten Staaten haben dazu geführt, dass der US-Hinterhof außenpolitisch zunehmend eigenständig operiert. In der US-Fachzeitschrift »Foreign Affairs« war im vergangenen Jahr bereits von einem »postamerikanischen Lateinamerika« die Rede – und das nicht ohne Grund. Aktueller Beleg dafür ist die Weigerung des gesamten Subkontinents, sich an den Russland-Sanktionen zu beteiligen, die der Westen hartnäckig einfordert – bislang ohne Erfolg.
Schon allein dies wäre wohl Anlass genug für die EU, sich in Lateinamerika wieder stärker einzumischen. Es kommen aber auch noch kühle ökonomische Interessen hinzu. Um sich von Öl und Gas zu lösen, benötigt Europa nicht nur neue Energieträger wie grünen Wasserstoff, sondern auch Batterierohstoffe wie Lithium. Ersteren könnten zahlreiche Staaten Lateinamerikas aus Sonne und Wind in rauen Mengen herstellen. Letzteres wiederum findet sich in enormen Mengen in Argentinien und Chile. Beides will die EU, darauf legte von der Leyen großen Wert, aus Lateinamerika importieren – und die Kommissionspräsidentin traf gleich erste Absprachen dafür.
Dabei wünscht die EU, die Importe mit Hilfe des Freihandelsabkommens mit dem Mercosur zu verbilligen, über das sie seit fast einem geschlagenen Vierteljahrhundert verhandelt. Seit vier Jahren ist das Abkommen eigentlich auch schon unter Dach und Fach; nur die formale Ratifizierung fehlt noch. Da klemmt es aber noch, vor allem, weil die EU die Unterzeichnung einer Zusatzvereinbarung zum Schutz der Amazonas-Wälder verlangt.
Nun zeigt sich aber auch hier Lateinamerikas gewachsene Eigenständigkeit. Nicht nur, dass Brasiliens Präsident Lula da Silva verärgert reagiert: Er ist nicht gewillt, über immer neue EU-Stöckchen zu springen, und seien sie inhaltlich noch so wichtig. Argentiniens Präsident Alberto Fernández meldet seinerseits Korrekturbedarf an: In seiner jetzigen Form liefert das Freihandelsabkommen kleinere sowie mittlere Unternehmen aus dem Mercosur der übermächtigen EU-Konkurrenz fast hilflos aus. Was die EU noch vor wenigen Jahren wohl recht problemlos hätte über die Bühne bringen können, das könnte heute an Widerständen aus dem Mercosur scheitern; so geht es, wenn die altgewohnte westliche Dominanz auf einmal schwächelt. Und Lula gab von der Leyen, die ihn natürlich auch noch gegen Russland in Stellung zu bringen suchte, noch ein Weiteres mit: »Die Schrecken und das Leid des Krieges können nicht selektiv behandelt werden. Die Grundprinzipien des Völkerrechts gelten für alle.«
Auch für den Westen, der sie jahrzehntelang straflos gebrochen hat. Dass Lula solche provozierenden Fakten feststellen kann, ohne sich zu isolieren – das ist ein erneuter Beleg für die tiefen Umbrüche in der äußeren Orientierung Lateinamerikas.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.