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Medizinische Leitlinien: Patienten profitieren noch zu wenig
AOK-Versorgungsreport untersucht Umsetzung medizinischer Leitlinien
Wie kommt Wissenschaft in die Medizin? Genauer: Wie gelangen neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Praxen und Kliniken? Ein wichtiges Instrument dafür sind wissenschaftliche Leitlinien. Diese werden von medizinischen Fachgesellschaften erarbeitet, die zu einer Krankheit möglichst umfassend und systematisch vorhandene Studien sichten. Je nach Qualität und vorhandener Menge geeigneter Studien entsteht am Ende eine Leitlinie mit unterschiedlich starken Behandlungsempfehlungen. Heute ist es auch üblich geworden, eine Patientenversion der Leitlinie zu erstellen, damit Betroffene ihre Krankheit und die Therapie besser verstehen können.
Aktuell gibt es in Deutschland etwa 850 Leitlinien von über 100 wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften. Diese Gesellschaften, insgesamt 182, sind wiederum in einer Arbeitsgemeinschaft (AWMF) zusammengeschlossen, die ein eigenes Institut für Wissensmanagement unterhält. Dieses pflegt das AWMF-Leitlinienregister. Die Leitlinien werden in der Regel von Medizinern ehrenamtlich erarbeitet, die Konsensbildung sei besonders aufwendig, berichtet Monika Nothacker, stellvertretende Institutsleiterin.
Jedoch ist es nicht so, dass Leitlinien schon regelhaft angewendet werden. Die AOK wollten das genauer wissen, und so prüfte das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen (Wido) im jüngsten Versorgungsreport die Praxis anhand von Routinedaten. Die Ergebnisse wurden am Mittwoch in Berlin vorgestellt. »Die Bilanz fällt sehr gemischt aus«, resümierte Christian Günster vom Wido.
Zum Beispiel zeigen die AOK-Routinedaten, dass alle Patientinnen und Patienten, die einen Herzinfarkt erlitten, danach Medikamente wie Lipidsenker oder Blutverdünner erhalten. Dennoch gibt es hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern: »Frauen erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren. Bei Frauen ab 80 Jahren liegt die Behandlungsrate fast 10 Prozent niedriger als bei Männern gleichen Alters.« Eine der Ursachen könnte sein, dass die unterschiedlichen Symptome eines Herzinfarkts bei den Geschlechtern etwa Rettungskräften noch nicht bekannt sind.
Die Versorgung beim Restless-Legs-Syndrom (RLS) wurde in einer weiteren Studie untersucht. Unter diesem unkontrollierbaren Bewegungsdrang der Beine, verbunden mit intensiven Missempfindungen, leiden der Nachtschlaf der Betroffenen und ihre Lebensqualität. Frauen haben die Diagnose etwas häufiger als Männer. Für eine kurze Zeit verordnet werden kann hier das Parkinson-Medikament Levodopa. Die entsprechende Leitlinie fordert explizit, dass Levodopa nur vorübergehend eingenommen werden soll.
Die Studie dazu zeigte jedoch, dass von über 330 000 AOK-Versicherten mit RLS 26 Prozent Dauerverordnungen erhielten, 30 Prozent dieser Gruppe sogar länger als zwei Jahre. Je länger diese Patienten das Mittel aber einnehmen, um so wahrscheinlicher ist eine Verschlechterung ihrer Symptome. Auch eine Dosiserhöhung nützt nicht mehr, obwohl vermutlich Patienten versuchen, durch Behandlerwechsel weiter an das Medikament zu kommen, vermutet Günster.
In der Krebsmedizin gab und gibt es besonders viele Innovationen. Hier ist es noch einmal extra aufwendig, die Leitlinien immer auf dem aktuellen Stand zu halten. Lungenkrebs gehört zu den tödlichsten Varianten dieser Erkrankung. In Deutschland werden 75 Prozent der Betroffenen erst diagnostiziert, wenn der Krebs schon gestreut hat. Bis vor zehn Jahren erhielten diese Patienten mehr oder weniger einheitlich eine Chemotherapie. Die Überlebensrate lag bei acht bis zehn Monaten. Inzwischen gibt es hier personalisierte Medizin: Neue Medikamente richten sich gegen spezifische Mutationen in den Tumoren. Zuvor bedarf es einer Analyse der Mutationen. Eine dann angepasste Behandlung kann den Patienten zu Überlebenszeiträumen von mehr als sieben Jahren verhelfen. Aber bis heute wird nicht einmal jeder dritte Patient getestet. Ein nationales Netzwerk, das die Tests durchführt, Therapieempfehlungen gibt und die Daten sammelt und auswertet, wird von AOK und Ersatzkassen unterstützt.
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