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Barnim: Ernstes und Heiteres im Oderbruch
Oderberger Rathausspiele bieten nicht nur Kunst und Konzerte, sondern thematisieren auch die NS-Vergangenheit des Ortes
Rote Stoffbahnen hängen aus den Fenstern des alten Rathauses in der Brandenburger Kleinstadt Oderberg im Landkreis Barnim. Auf dem Rathausplatz stehen Stühle und Bänke, die sich langsam mit Besucher*innen füllen. Plötzlich erschallt lautes Glockengeläute über dem Rathaus, eine Frau stimmt aus einem der oberen Fenster des alten Gebäudes einen Gesang an. Die Szene ist Teil der Rathausspiele, mit denen Künstler*innen aus Berlin und Brandenburg für drei Wochenenden Leben in den kleinen Ort am Rande des Oderbruchs bringen.
»Wie bringt man im digitalen Zeitalter den analogen Raum neu zum Vibrieren?« Das ist eine der Fragen, die sich die beteiligten Künstler*innen gestellt haben. Der Zustrom hält sich am vergangenen Samstag in Grenzen. »Das liegt wohl auch an den schlechten Verkehrsverbindungen«, mutmaßt eine Frau aus dem Organisationsteam. Einen Bahnhof gibt es in dem kleinen Ort schon lange nicht mehr. Der letzte Bus fährt am Nachmittag den Ort an.
Ein Spaziergang durch Oderberg zeigt: Der Leerstand im Ort ist groß, auch das Rathaus ist schon lange geschlossen und wurde für die Kunstaktionen wieder geöffnet. Seit 2017 ist auch die große Oderberger Kirche geschlossen, die am Hügel über dem Rathaus thront. Der Grund ist ein giftiges Holzschutzmittel, das dort zu DDR-Zeiten Anwendung fand.
Aber auch ein Großteil der alten Gebäude rund um das Oderberger Rathaus steht leer. Im Rahmen des Festivals sind sie, mit fantasievollen Namen versehen, temporär geöffnet. Da gibt es in der Alten Seilerei das »Amt für persönliche Zugewandtheit«, in dem für das Wochenende der Stadtvorleser residiert. Im »Amt für Psychogeographie« direkt gegenüber dem Rathaus sind während des Festivals Zeichnungen und künstlerische Installationen zu sehen. Am Abend gibt es dort Konzerte. Verantwortlich ist dafür der Berliner Musiker Marc Weiser, einer der Organisator*innen der Rathausspiele. Weiser ist Produzent experimenteller Musik und hat in den letzten Monaten in einer ehemaligen Kirche im Nordkiez von Berlin-Friedrichshain zahlreiche Konzerte kuratiert.
In der Hauptstadt wird es immer schwieriger, für solch anspruchsvolle Kunst bezahlbare Räume zu finden. In Orten wie Oderberg wäre sehr viel Platz. Vor allem jüngere Ortsbewohner*innen beteiligen sich an dem Festival und erhoffen sich davon auch, neues Leben in den Ort zu bringen. Ältere Oderberger*innen bleiben hingegen auf Distanz, wie zum Beispiel Erika Rückert. Die Rentnerin lehnt an einem Geländer über dem Fluss, der das Städtchen durchfließt. Die wenigen Hundert Meter zum Rathausplatz wollen sie und ihr Mann nicht gehen. »Das ist was für junge Leute«, sagt sie lachend.
Dabei wird während der Rathausspiele durchaus Programm für alle Generationen geboten. Punkt 18 Uhr tagt die Ortsversammlung am Rathausplatz. Dort können alle Anwesenden Anträge einreichen. Manche sind erkennbar humoristisch. So wird in einem Antrag kostenlose Badebekleidung gefordert, um den nahen Oderberger See zu durchschwimmen.
Es ist allerdings nicht nur Heiteres auf der alternativen Landpartie im Oderbruch zu erleben. Ein Vortrag im »Amt für verlorene Zeit« mit Sitz im Rathaus widmete sich den zahlreichen Zwangsarbeitslagern, die es in Oderberg in der Zeit des Nationalsozialismus gegeben hat. So gab es schon früh ein Lager für Jüd*innen aus dem Ort. Während des Zweiten Weltkriegs mussten in Oderberg Kriegsgefangene vor allem aus Osteuropa und nach 1943 aus Italien in dem kleinen Ort schufen. Kleine Betriebe wie Bäckereien und Metzgereien, aber auch Landwirtschaften profitierten von der Ausbeutung der Zwangsarbeiter*innen, wie der Referent erklärt. An der gut besuchten Veranstaltung nahmen auch zahlreiche ältere Oderberger*innen teil.
Vom 23. bis 25. Juni wird zwischen 15 und 22 Uhr der dritte und letzte Teil der Rathausspiele stattfinden. Alle Veranstaltungen sind kostenfrei. Informationen zum Programm unter:
www.limited-blindness.eu/rathaus-spiele
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