Berliner Schwimmbäder: Die Lebensretter vom Wedding

Das Kombibad Seestraße bietet im Sommer wie im Winter genügend Platz für Schwimmsüchtige. Die Bademeister müssen dabei immer auf der Hut sein

  • Anne Hahn
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Arm schwingt hektisch aus dem Wasser, dann der andere. Ich schwimme Brust und bin in der Mitte der 50-Meter-Bahn, als ich den Ruf höre: »Sie kann nicht schwimmen!« Von der Gruppe der drei Mädchen, die eben noch am Beckenrand hingen, ist eine etwa vier Meter vom Rand entfernt im tiefen Wasser und rudert mit den Armen, geht unter; eine andere schreit. Wie schnell könnte ich dort sein? Es ist zu weit. Von rechts kommen Bademeister angerannt, eine überholt ihre Kollegen, streift ihre Jacke ab und springt. Es geht sehr schnell, wenige Sekunden später hat sie das Mädchen gegriffen und an den Rand gebracht.

Ein kühler Tag Mitte Juni in Berlin. Es nieselt. Im Kombibad Seestraße stehen Pfützen auf Wegen und Tischen des Restaurants »Seepferdchen«, das vom Freibadbereich und der Schwimmhalle aus betreten werden kann. Außer mir sind noch eine Handvoll Schwimmerinnen im Bad und eine Schulklasse. 14- und 15-Jährige einer Weddinger Schule, Mädchen meist in Leggins und T-Shirts, die Jungs in langen Badeshorts. Sie chillen im geräumigen Kinderareal, dann wechseln sie in das große Becken, einige queren die Bahn im Rudel. Ein paar Jungs springen vom Rand, alle haben ihren Spaß. Bis das Mädchen gerettet werden muss.

Einen Moment herrscht absolute Stille. Der Lehrer, der abseits in einem haltestelleähnlichen Häuschen auf dem Handy daddelt, schaut auf. Langsam erhebt er sich und läuft hinüber, wo jetzt ein Bademeister laut mit dem geretteten Mädchen schimpft. Ihre Widerrede, sie könne doch schwimmen, wird überprüft. Der Bademeister schickt sie ins Kinderbecken und steht mit verschränkten Armen dort, schüttelt den Kopf. Schimpft weiter. Als ich das Becken verlasse, hat der Lehrer endlich seine Schutzbefohlenen erreicht.

Über Wasser

Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.

Das Kombibad Seestraße wurde 1980 als Badekomplex im Berliner Bezirk Wedding unweit der Straßenkreuzung Reinickendorfer/Seestraße am Louise-Schroeder-Platz eröffnet. Ich liebe das Bad, vor allem im Winter, wenn die Traglufthalle die beiden Becken des Sommerbades überspannt und genug Platz für Dutzende Schwimmsüchtige bietet. Die Umkleiden des Freibadbereiches sind mit Vorhängeschloss oder Münzen verschließbar, die Duschen separat, alles blitzblank. Als ich dusche, kommen die drei Mädchen dazu, die Gerettete ist noch aufgewühlt: »Hab ich escht Schock, Alter!« Dann lachen sie um die Wette, ich lächle mit.

Seit über 100 Jahren verrichten Wasserretter ihre Arbeit, und sie ist überlebenswichtig. 1912 stürzte eine Seebrücke auf Rügen ein, 17 Menschen kamen ums Leben – daraufhin gründete sich die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Der Wasserrettungsdienst im Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) entstand nach einem Unglück beim Sängerfest am Berliner Weißen See im August 1900. Zwei Ruderboote kenterten, nur fünf Menschen konnten gerettet werden. Heute bemängelt die DLRG die hohe Quote der Nichtschwimmer in Berlin. Pandemie- und heizkostenbedingt hat sich die Anzahl der Kinder, die nicht schwimmen können, zuletzt alarmierend verdoppelt – auf 20 Prozent.

Als ich die Umkleide verlasse, kreuzt die Bademeisterin meinen Weg, die Haare noch nass. Auf meine Nachfrage sagt sie: »Wir sind schon öfter am Rausholen. Der Lehrer hat uns eben versichert, dass alle Eltern unterschrieben haben, dass ihre Kinder schwimmen können!« Wir schauen auf das Becken, in dem die Jugendlichen kreischen. Es hat aufgehört zu regnen. Ich hole mir einen Kaffee und sehe durch die Scheibe des »Seepferdchens« eine Gruppe Kinder, die in der Halle schwimmen lernt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.