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Union Berlin-Fans: Gruppe für suchtkranke Fans gegründet
Bratwurst und Bier, das gehöre zum Fußball, sagt der Präsident des 1. FC Union Berlin. Einige Fans sehen das mit dem Bier anders. Sie haben eine Gruppe für suchtkranke Unioner gegründet
Sein Leben von damals kommt ihm vor, als hätte er viel zu lange auf den Auslöser gedrückt. Er will ein Foto schießen, aber die Blende, da, wo das Licht einfällt, ist anscheinend eine Ewigkeit geöffnet. Das Bild verschwimmt, jede Bewegung zäh wie Kaugummi, die Lichter tanzen. Kein Fokus, alles dreht sich.
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Thomas Lindhorst taumelt. Die paar Treppen zur »Abseitsfalle«, der Fankneipe des 1. FC Union Berlin, schafft er nicht mehr hoch. Er stolpert, schlägt sich den Kopf an den harten Kanten der Steinstufen auf. Überall in seinem Gesicht ist Blut. Er duselt irgendwie zur Eingangtür. Er schafft es. Jetzt steht er vor dem Tresen und will bestellen. »Thomas, wie siehst du denn aus?«, fragt die Stimme hinter dem Ausschank. Was genau da vor einer Minute auf den Treppen passiert ist, daran kann sich Lindhorst schon gar nicht mehr erinnern. Er will doch nur das nächste Bier.
Lindhorst ist Ende Mai 38 Jahre alt geworden. An seinem Geburtstag ist er mit seiner Freundin nach Sinsheim gefahren, wo Verwandte von ihr wohnen, und hat sich das Auswärtsspiel von Union Berlin gegen die TSG Hoffenheim angeschaut. Nüchtern – das ist etwas ganz Besonderes. Er kann sich an das Ergebnis erinnern, daran, dass Union 4:2 verloren hat und dass es für seinen Verein dadurch noch einmal eng wurde mit der Champions League. Früher fragten ihn seine Kollegen am Montag auf der Arbeit, wie das Spiel gewesen sei, und er stammelte irgendetwas von »gut« oder »schlecht« und schaute währenddessen im Internet nach, wie es eigentlich ausgegangen war. »Ich habe mit Union in der 2. Liga jedes Stadion deutschlandweit besucht, kann mich aber an keines wirklich erinnern«, sagt Lindhorst und zieht an seiner selbst gedrehten Zigarette – die einzige Sucht, die noch geblieben ist. Lindhorst trinkt seit dem 17. Juli 2022 keinen Alkohol mehr. Sein »Clean Day«, so nennen ehemalige Suchterkrankte den Tag, an dem sie aufgehört haben zu konsumieren, ist bald ein Jahr her. Ein Grund zu feiern eigentlich. »Mal schauen«, sagt er. In seinem Blick liegt ein bescheidener Stolz. Das erste Jahr ist das härteste, heißt es.
Das mit dem Alkohol begann bei Lindhorst, der in einem kleinen Ort in Mecklenburg aufwuchs, schon früh. Mit der Jugendweihe fing es noch ganz klassisch an, aber dann kam relativ schnell die Sucht nach dem Rausch. In der Hofpause geht er mit ein paar Kumpels hinüber zum Bäcker und holt sich ein Bier. Im Jugendclub geht es weiter. »Bier hat keine Hausaufgaben für mich gemacht. Wenn ich getrunken hatte, konnte ich die Verantwortung für alles abgeben.«
Der Rauschzustand gefällt ihm so gut, dass es ohne bald gar nicht mehr geht. Er trinkt Alkohol und raucht Gras. Für Fußball interessiert er sich zu dieser Zeit überhaupt nicht. Er ist Sprayer, klettert betrunken, »knetenhart«, wie er sagt, an Häuserwänden hoch. »Dass ich überhaupt noch lebe, darüber kann ich froh sein.«
Er braucht den Exzess, weil dann alles viel leichter wird. Kiffen macht ihn müde, aber mit Alkohol ist das Leben lustiger. »Ich war kein depressiver Trinker. Ich war der, der am Ende nackt auf dem Tresen tanzt.«
Mit 16 zieht er für eine Ausbildung zum Werbetechniker nach Kiel. Weil das Lehrlingsgehalt normal mau ist, geht er nach Feierabend jeden Tag in den Discounter. Zwei Bier für den Weg und nebenbei steckt er die kleinen Flachmänner ein, die vor der Kasse im Regal stehen. Jetzt trinkt er täglich. Nicht nur ein Feierabendbierchen, sondern vier oder fünf. Später, da wohnt er schon in Berlin, weil er hier eine neue Stelle gefunden hat, werden es um die acht sein.
Die Ausbildung schließt er ab, obwohl er morgens kaum zu gebrauchen ist. Der Kater fordert den Rausch zurück. Sein Chef wird langsam skeptisch, weil Lindhorst regelmäßig zu spät kommt. Er verspricht, sich zu bessern. »Damit war es dann auch gut.« Seinen Job macht er tadellos, die Kunden sind zufrieden. Während der Arbeit trinkt er nicht. Aber Menschen, die ihn auf seinen Alkoholkonsum ansprechen, geht er fortan aus dem Weg.
»Für mich gab es immer wieder neue Ausreden: Ich brauche das. Mir schmeckt es halt. Ich hab das im Griff.« In Deutschland weisen laut »Alkoholatlas« des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2022 etwa neun Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren einen »problematischen Alkoholkonsum« auf. Das bedeutet bei Männern mehr als 20 Gramm Reinalkohol täglich und bei Frauen zehn. Ein normales Bier enthält 20 Gramm reinen Alkohol, 0,2 Liter Wein 19 Gramm. Für Lindhorst existierte keine Grenze und das über 20 Jahre hinweg.
Als er 2012 in Berlin eine Frau kennenlernt, die gerne zum Fußball geht, nimmt sie ihn mit. Lindhorst verpasst fortan kein einziges Heimspiel von Union Berlin mehr. Die Spieltage sehen für ihn ab jetzt immer gleich aus: Weil er keinen Hunger hat, wenn er aufgeregt ist, geht der erste Weg nach dem Aufstehen direkt zum Kühlschrank. Plopp, das Bier ist auf. Beim Losgehen, plopp, das zweite und auf dem Weg ins Stadion, plopp, plopp, plopp, das dritte, vierte, fünfte. Bis zum Spielbeginn um 13.30 Uhr hat er so locker anderthalb Promille intus. »Jahrelang habe ich auf dem Spielfeld schon beim Anpfiff 22 Unioner auf dem Platz gesehen«, sagt er. Der Sport an sich gefällt ihm nur so mittel. Was er mag, ist das gemeinsame Rauscherlebnis mit seinen Freunden. Zusammen mit einem Kumpel schießt er sich komplett ab. Neben Bier und Schnaps sind die beiden oft auch auf Speed, vor allem auf den Auswärtsfahrten quer durch die Republik. »Eigentlich habe ich aus diesen Jahren kaum ein klares Bild.«
Es fasziniert ihn, sich volllaufen zu lassen, die Kontrolle zu verlieren, zu pöbeln und sich arschig zu benehmen. Er bekommt Stress mit der Polizei, ist wegen Körperverletzung an Polizeibeamten zurzeit immer noch vorbestraft. Auch seine Trinkroutine nach dem Feierabend ist die gleiche wie zu Lehrlingszeiten. »Es kamen Leute auf mich zu, die sagten: ›Thomas, ich hab dich noch nie ohne Flasche in der Hand gesehen.‹«
Dass etwas massiv aus dem Ruder gelaufen ist, fällt ihm erst auf, als die Kombination aus Trinken und Fußball ihm mindestens einmal in der Woche einen kompletten Blackout beschert. »Ich weiß noch, dass ich für das Auswärtsspiel in den Bus gestiegen bin und dann ist der Tag eigentlich weg«, sagt Lindhorst. Es stört ihn, dass er sich an Wochenenden ständig verletzt, weil er besoffen von Traversen fliegt, die Treppen hinunter- oder hinaufstürzt. Mit seiner Freundin hat er vergangenes Jahr ein Haus in Neuenhagen bei Berlin gekauft. Ihm machte der Gedanke Angst, dass sie mit dem Kredit allein dastünde, würde er sich in die Erwerbsunfähigkeit trinken, weil er im Suff wieder irgendwo hinknallt.
Lindhorst fängt an, im Internet nach Suchtberatungsstellen zu suchen, und findet eine in Berlin-Oberschöneweide. Den körperlichen Entzug zieht er in zwei Wochen allein zu Hause durch. Er beginnt, seine Verhaltensmuster zu ändern, spricht mit der Therapeutin über seine Kindheit und vor allem darüber, warum er trinken muss. »Ohne professionelle Hilfe hätte ich es nicht geschafft«, sagt er. Bei der Suchtberatung hat er nur alle drei Wochen einen Termin, aber er weiß, dass er öfter mit jemandem sprechen muss, um durchzuhalten. Lindhorst erinnert sich an einen Flyer, den er einmal bei einem Union-Spiel eingesteckt hatte, darauf befinden sich die Kontaktdaten einer Selbsthilfegruppe von Unionern, die suchtkrank sind oder waren.
»Zur Einsicht, dass man ein Problem hat, muss jeder selbst kommen«, sagt Steffen*, Sprecher von »nüchtern betrachtet«, ebenjener Gruppe auf dem Flyer, und deren Mitbegründer, sonst »wird das nicht klappen«. Beim vorletzten Heimspiel der Saison gegen den SC Freiburg sitzt er vor dem Anpfiff in einem Café in der Lindenstraße in Berlin-Köpenick und bestellt ein Bauernfrühstück. Neben ihm Jockel* und Hoppel*, der Kassenwart der Gruppe. Alle trinken Kaffee. Auf dem Tisch liegt ein Schal in den Vereinsfarben, bedruckt mit dem Schriftzug »nüchtern betrachtet – mehr vom Spiel«. Steffen und Jockel tragen selbstgemachte T-Shirts mit dem Logo, das sie sich ausgedacht haben, alles in Rot-Weiß.
Alle drei haben eine lange Trinkerlaufbahn hinter sich, sind aber mittlerweile stabil trockene Alkoholiker. Die Gruppe trifft sich vor Heimspielen regelmäßig hier. Alle sprechen offen über ihre Sucht und darüber, was sie angerichtet hat, eine Vertrautheit gewachsen aus den wöchentlichen Gruppentreffen. Keiner der Drei war vor dem Entzug jemals nüchtern im Stadion. Inzwischen kämpfen sie für einen Getränkestand an der Alten Försterei, an dem es kein Bier gibt, auch kein akoholfreies. »Das triggert ungemein und führt meistens doch wieder in die Abhängigkeit«, sagt Steffen. Die Flaschenform sei die gleiche, der Geruch ähnlich. Teufelszeug für Abstinenzler.
Der Stadionbesuch ist für sie anfangs eine permanente Herausforderung. Hoppel erzählt, wie er einmal einen Sechserkarton Bier zu einer Gruppe Fans durchreichen sollte: »Ich habe extrem geschielt, damit ich nicht aufs Bier gucken muss, dabei ist mir aber die Hälfte über die Hand gelaufen. Die ganze Zeit den Geruch in der Nase zu haben, war extrem hart. Und ich realisierte erst jetzt, was meine Frau die ganzen Jahre ertragen musste.«
Auch Thomas Lindhorst, der heute nicht dabei ist, erzählt von den Bierduschen nach jedem Union-Tor und davon, wie stark man sein muss, wenn man das erste Mal eine volle Ladung direkt ins Gesicht bekommt. Den Alkohol im Stadion wollen sie niemandem verbieten, dafür ist der Verein zu sehr an die Sponsorengelder gebunden. Aber so einen alkoholfreien Getränkestand hätten sie schon gerne, den könnte man auch gut mit einer Infokampagne verbinden, sagt Steffen.
Jeden Dienstag trifft sich die Gruppe in Schöneweide und jeder erzählt in einer »Blitzrunde«, wie es ihm geht. »Ich bin erst durch die Gruppe wieder zurück ins Leben gekommen«, sagt Jockel, der nach dem Tod seiner Frau vor zehn Jahren tief abstürzte. Wenn es jemandem akut schlecht geht, kann er die anderen in einer Chatgruppe kontaktieren. »Irgendwer meldet sich immer zurück zum Reden«, sagt Steffen. Regelmäßig organisiert »nüchtern betrachtet« gemeinsame Ausflüge.
Kürzlich war Lindhorst auf einer Geburtstagsfeier eingeladen. Ein Freund schmiss eine Party im »Panenka«, eine der bekanntesten Union-Kneipen in Berlin-Friedrichshain. Als der »Tatratea«, ein Likör auf Teebasis, durchs Lokal ging, machte Lindhorst einen fatalen Fehler: Er wollte einmal daran riechen. »In dem Moment sind mir fast die Synapsen durchgeknallt«, sagt er. Er schnappte sich seine Freundin und verschwand sofort nach Hause. »Ich hatte mich monatelang sicher gefühlt, war sogar auf Punk-Festivals, wo es in jedem Lied um Alkohol geht. Aber das Gute ist, dass ich in dem Moment nüchtern war und wusste, was auf dem Spiel steht.«
*Namen auf Wunsch anonymisiert.
Suchtberatungsstellen in der Nähe unter:
www.dhs.de/service/suchthilfeverzeichnis
Hilfe gibt es auch beim Infotelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung:
0221-89 20 31
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