- Politik
- Landwirtschaft in Chile
Umdenken auf dem Acker
Chile galt lange als Musterland für die Agrarindustrie, rückt jetzt aber davon ab und will die kleinbäuerliche Landwirtschaft fördern
Mit dem Spaten öffnet Pedro Henríquez einen kleinen Bewässerungskanal auf seinem Feld. Das Wasser fließt nun vom Rand des Ackers in langen Linien an Salatköpfen vorbei. Der 25-Jährige lächelt übers ganze Gesicht, während er von seiner Arbeit erzählt. Man merkt ihm an, dass sie ihm gefällt. »Ich bin mit der Erde hier groß geworden«, sagt der junge Bauer, »die Familie meines Vaters hat während der Agrarreform Ländereien erhalten, gleich neben den Feldern bin ich aufgewachsen.«
Henríquez’ Familie ist mittlerweile in die benachbarte Kleinstadt Llay-Llay gezogen, die rund 100 Kilometer nördlich von Santiago liegt. Die fünf Hektar Land bestellte der Vater mit seinen Geschwistern weiter, und nun bereitet sich der Sohn darauf vor, die Arbeit von ihm zu übernehmen. »Es war eine Entscheidung gegen den Willen meiner Mutter«, meint Henríquez. Sie hätte es lieber gehabt, wenn er sich von der Landarbeit abgewendet hätte, weil sie zu hart sei und wirtschaftlich unsicher.
In Chile herrscht seit Langem eine Landflucht. Im Jahr 1990 lebten 17 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, heute sind es nur noch 13, Tendenz sinkend. Immer mehr kleinbäuerliche Betriebe werden aufgegeben, und der Anbau von Früchten und Gemüse für den heimischen Markt nimmt ab. Die Zukunft gehörte lange Zeit den Agrarexporten, riesige Plantagen wurden dafür angelegt. Tatsächlich eignet sich die Strategie auf der Südhalbkugel zum Export von Früchten jeweils zur umgekehrten Jahreszeit nach Europa und die USA. Auch bei Henríquez steht eine Avocado-Plantage in unmittelbarer Nähe.
Doch dieser Entwicklung will die linke Regierung um Präsident Gabriel Boric in Chile jetzt entgegenwirken. Sie entwarf im Mai 2023 einen Plan zur Ernährungssouveränität, die zu einer höheren einheimischen Produktion führen und der städtischen Bevölkerung bessere Lebensmittel bereitstellen soll. Im Zentrum des Plans stehen kleinbäuerliche Strukturen wie die von Henríquez.
Der Krieg in der Ukraine und die Corona-Pandemie haben gezeigt, dass die Beschaffung von grundlegenden Nahrungsmitteln nicht immer gesichert ist. Das hat im Landwirtschaftsministerium zu einem Umdenken geführt. Chile will die Abhängigkeit vom Weltmarkt bei den Grundnahrungsmitteln reduzieren. Derzeit importiert das Land knapp die Hälfte des benötigten Weizens aus Argentinien, Kanada und den USA sowie fast den gesamten Bedarf an Kichererbsen und Linsen. Dabei hat das Land diese Produkte einst im großen Stil selbst angebaut und sogar exportiert.
Die Militärdiktatur von 1973 bis 1990 hatte einen Wandel in der Agrarpolitik herbeigeführt, und nach ihrem Ende setzten die sozialdemokratischen Regierungen diese Strategie fort. Sie förderten eine Konzentration auf wenige landwirtschaftliche Produkte wie Zellulose, Avocado und Wein, die vor allem für den Export bestimmt waren. Damit einher ging eine Zusammenlegung von landwirtschaftlichen Flächen; die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die vor allem während der Landreform in den 60er Jahren entstanden war, galt als Auslaufmodell.
Das will der Landwirtschaftsminister Esteban Valenzuela jetzt grundlegend ändern. Sie solle wieder eine wichtigere Rolle einnehmen, erklärt er am Telefon. Einhergehend damit möchte er »biologische Anbaumethoden und mehr Gleichstellung auf dem Land« unterstützen. Um das zu erreichen, sollen Fördermittel, die bislang vor allem an große Plantagen gegangen sind, umgelenkt werden und vermehrt in kleinbäuerliche Strukturen fließen. Denn sie seien es, die künftig für die Ernährung des Landes zuständig sein sollen.
Der Minister ist zufrieden mit dem bisher Erreichten. »In nur 13 Monaten, die wir an der Regierung sind, konnten wir eine über zehnjährige Tendenz der sinkenden Produktion umkehren.« Das ist vor allem deshalb möglich geworden, weil für chilenische Verhältnisse große Summen für Kredite, Samen und Dünger investiert worden sind. Aber für eine langfristige Unterstützung brauche es andere Strategien, meint Valenzuela. Vor allem die Absatzmöglichkeiten der Lebensmittel müssten noch verbessert werden, erklärt er. Mithilfe eines Instituts möchte er die Bildung von Genossenschaften fördern und ein Forschungszentrum gründen, um die kleinbäuerlichen Betriebe zu modernisieren.
Pedro Henríquez stöhnt derweil, als ich ihn nach seinen Verkaufswegen frage. Vor Kurzem habe er Zucchini geerntet und direkt vermarktet. Doch es waren zu viele, die er nicht losgeworden ist. »Schließlich musste ich einen Großteil für ein Drittel des eigentlich angestrebten Preises an einen Großhändler verkaufen«, erzählt er.
Immer wieder machen ihm Einnahmeverluste zu schaffen. Vor ein paar Tagen erst habe er seine gesamte Saubohnenernte wegen eines nächtlichen Frosts verloren. In dem milden Klima der Region kommt das während dieser Jahreszeit nicht oft vor. Wie die meisten Landwirt*innen hat auch die Familie Henríquez keine Versicherung, »es hieß zwar, die Regierung würde uns helfen«, sagt der Bauer, »doch dann kamen die Überschwemmungen weiter im Süden, und die für uns bereitgestellten Gelder wurden dort eingesetzt.«
Mit den Ernteverlusten und den daraus resultierenden unregelmäßigen Einkommen könne man nur schwer über die Runden kommen, sagt Henríquez. Deshalb ist er auf Nebenjobs angewiesen und verdient zusätzlich Geld, indem er mit seinem kleinen Lastwagen Fahrten für andere übernimmt. Sein landwirtschaftliches Wissen hat er auch schon in Nachmittagskursen der benachbarten Grundschule weitergegeben.
Die Regierung weiß um diese Schwierigkeiten und unterstützt deshalb die Gründung und Förderung von Wochenmärkten, auf denen das Obst und Gemüse der angrenzenden Dörfer und Städte direkt abgesetzt werden können. Pedros Tante, Mónica Henríquez, verkauft auf einem solchen Markt die Ernte der gesamten Familie. Sie ist Imkerin und steht jeden Freitag mit ihrem Honig und dem Gemüse der Familie mit einem Stand vor dem Rathaus von Llay-Llay. Ihr gefällt zwar das Konzept des Marktes, »durch den direkten Kontakt wird unsere Arbeit wertgeschätzt«, erklärt sie. Doch der Umsatz in Llay-Llay reicht nicht aus, »die Erlöse hier sind zu gering«. Es bräuchte bessere Verkaufswege in die größeren Städte wie Santiago oder Valparaíso.
Trotzdem hält sie den neuen Ansatz der Regierung für richtig, sagt die Imkerin, insbesondere von der Förderung des biologischen Anbaus und der Frauen in der Landwirtschaft verspricht sie sich einen nachhaltigen Wandel. Auch ihr Neffe Pedro Henríquez begrüßt den neuen Kurs der Regierung, wenngleich es für ihn nicht leicht ist, diesen umzusetzen. »Mein Vater gibt enorme Summen an Geld für spezielle Samen, Dünger und Pestizide aus.« Er selber möchte sich davon abwenden und verzichtet schon jetzt zum Teil auf Pestizide; seinen Vater versucht er davon zu überzeugen. Aber das sei schwierig, sagt er.
Der Soziologe Rodrigo Yañez sieht in dem neuen Weg der Regierung einen weitreichenden Ansatz, der weit über die Agrarpolitik hinausgeht. »Sie greift verschiedene Forderungen auf, die seit Langem innerhalb der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft diskutiert werden.« So werde etwa bemängelt, dass mit der Konzentration auf Agrarexporte die Diversität in der landwirtschaftlichen Produktion abgenommen habe, erklärt er. Der Anstoß zum Umdenken kam mit der Corona-Pandemie. »Durch die Schließung der Grenzen haben wir bemerkt, dass in Chile einige Grundnahrungsmittel gar nicht mehr produziert werden, die früher aber aus heimischer Produktion kamen.« Die darauf folgende Inflation habe ein weiteres Problem verursacht: »Mit der Teuerung haben viele Menschen ihre Essgewohnheiten geändert und angefangen, sich deutlich ungesünder zu ernähren«, erklärt der Soziologe vom lateinamerikanischen Forschungszentrum für ländliche Entwicklung. Die Regierung versuche, auf dieses komplexe Thema mit einer umfangreichen Strategie zu antworten. Yañez begrüßt das und findet es wichtig, »dass auch Ernährungsvorschläge vom Gesundheitsministerium ausgearbeitet werden«.
Während fast überall in Lateinamerika schon seit Jahren ähnliche Debatten über die kleinbäuerliche Landwirtschaft führen, hielt Chile lange Zeit an der Agrarindustrie fest. »Andere Länder richteten ihren Blick nur hierher, wenn sie eine Industrie für den Agrarexport aufbauen wollten«, weiß Yañez. Wenn sich jetzt das Musterland für Freihandelsabkommen und Agrarexporte anders ausrichten will, dann sei das bemerkenswert. Fraglich ist jedoch, wie umfangreich dieser Strukturwandel gelingt. Auch Yañez ist skeptisch. Aber immerhin hält er es für möglich, dass beide Agrarzweige nebenbei existieren können.
Daran zweifelt allerdings die Imkerin Henríquez und blickt auf die Avocado- und Zitrusplantagen, die sich seit Jahrzehnten auch in Llay-Llay ausgebreitet haben. Das habe zwar zu einem gewissen wirtschaftlichen Wohlstand geführt, bedrohe aber die kleinbäuerliche Landwirtschaft unmittelbar. »Viele können im Sommer längst nicht mehr alle Felder bestellen«, erklärt sie. Auch bei Pedro Henríquez und seinem Vater liegen zwei Hektar brach. Es fehlt schlicht an Wasser. Die Kanäle, die Wasser vom benachbarten Fluss auf die Felder tragen, trocknen teilweise aus. Währenddessen kürzt das Kanalkomitee die Bewässerungszeit für jedes Feld. Die Folge sind Konflikte zwischen den Landwirt*innen um das Wasser. »Wir können nicht an einen Ausbau der kleinbäuerlichen Landwirtschaft denken, wenn uns Grundlegendes fehlt«, sagt die Imkerin, die auch die Präsidentin der organisierten Kleinbauer*innen der Gemeinde ist.
Der Klimawandel verringert auch in Chile die Regenmenge insgesamt. Zudem kappt die Minenindustrie in den Anden einen Teil des Wassers. Besonders in der Kritik steht aber die Avocado- und Zitrusindustrie, weil die Früchte einen besonders hohen Wasserbedarf haben, der meistens durch tiefe Brunnen gestillt wird. Das verringert den Wasserzulauf in den Fluss und senkt den Wasserspiegel insgesamt. In Llay-Llay ist das sichtbar: Der Bach, der durch die Stadt fließt, ist mittlerweile komplett ausgetrocknet.
Um das Wasser gerechter zu verteilen, trat im Jahr 2022 ein neues Wassergesetz in Kraft. Bei der Wasserversorgung sollen jetzt die Bevölkerung und die kleinbäuerlichen Strukturen Vorrang haben. Bisher war der Zugang zum Wasser Privateigentum. Wer die tieferen Brunnen hat, konnte bei Trockenheit das Wasser behalten, während der Rest an einem Mangel litt. Jetzt darf der Staat eingreifen. Bisher tat er das aber kaum. Wenngleich davon maßgeblich abhängen wird, ob die neue Agrarstrategie Erfolg haben wird.
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