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Gemeinsame Sicherheit als alternative Strategie
Friedensbewegung und Linkspartei sollten ihren Hut in die Arena der Kämpfe um Strategien gegen die globalen Gefahren werfen
Die Bundesregierung hat eine Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen. Sie soll »zur Weiterentwicklung der strategischen Kultur in Deutschland beitragen und Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Debatte sein.« So wird proklamiert. Die Friedensbewegung und als ihr Teil die Linkspartei sollten ihren Hut in die Arena der Kämpfe um Strategien gegen die globalen Gefahren im 21. Jahrhundert werfen.
Im Konzept der Bundesregierung für Integrierte Sicherheit für Deutschland wird Sicherheit umfassend verstanden. Als Schutz vor Kriegen, als innere Sicherheit zur Verteidigung »unserer Interessen und Werte« und als Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Ob »unsere Interessen« gleichermaßen die des Großkapitals und der 13,8 Millionen in Armut oder von Armut bedroht Lebenden in Deutschland sind, mag bezweifelt werden. Solche Fragen werden in der Nationalen Sicherheitsstrategie nicht gestellt. Aber dass im Angesicht von tiefen Mehrfachkrisen menschliche Sicherheit Umfassende Sicherheit sein muss, ist richtig. Das hatten Politiker wie Egon Bahr, Olof Palme, Willy Brandt und Gro Harlem Brundtland und Wissenschaftler wie der Friedensforscher und Dieter S. Lutz schon in den 1980er Jahren erkannt.
Ist die neue Nationale Sicherheitsstrategie für Deutschland also die überfällige, der Größe der Gefahren für die Menschheit angemessene Korrektur der Strategiedefizite deutscher Regierungspolitik? Trotz ihrer komplexen Anlage, trotz vieler einzelner sinnvoller Reformansätze: Sie ist es nicht! Sie geht im Kern fälschlich davon aus, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Westen die Lösung der Menschheitsprobleme bereits verkörpert. Die Bedrohung des Friedens und der Sicherheit durch Russland wird nicht als Teil erbitterten Kampfes um die Weltordnung verstanden, in dem Russland um die Wiedergewinnung imperialer Macht ringt und die USA an ihrem unipolaren Vormachtanspruch festhalten. Die Vereinigten Staaten verfolgen im Ukraine-Krieg das Ziel, Russland dauerhaft als geostrategische Macht auszuschalten. Sie wollen den Rücken dafür frei bekommen, China an einem Aufstieg zu Augenhöhe mit den USA zu hindern.
Vor allem aber: Die neue Sicherheitsstrategie bleibt vorrangig »glaubhafter nuklearer Abschreckungsfähigkeit« verhaftet. Als Eckpunkte werden genannt: nukleare Teilhabe Deutschlands auch weiterhin und Bereitstellung von Trägerflugzeugen für Atombomben, militärische Präsenz gezielt im Bündnisgebiet in Einklang mit den Nato-Planungen ausbauen, als logistische Drehscheibe im Zentrum der Allianz funktionieren, besondere Verantwortung für die Aufstellung der schnell verlegbaren Einsatzkräfte der EU übernehmen, in unsere Wehrhaftigkeit investieren. Und das Ganze nicht gerade bescheiden: »Global bleibt auch der Indopazifik für Deutschland und Europa von besonderer Bedeutung.«
Diplomatische Lösungen, vertrauensbildende Maßnahmen, Anerkennung gegnerischer Interessen, Kompromisssuche in Verhandlungen, Respektierung roter Linien, Vermeidung von Anlässen zu Fehlwahrnehmungen auf der anderen Seite bestimmen nicht den Geist der Neuen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung.
Die Linke ist gefordert, gegen den Vorrang militärischer Abschreckung ein alternatives Sicherheitskonzept zu setzen: die Doktrin Gemeinsamer Sicherheit. Sie war in den 80er und 90er Jahren nicht allein eine orientierende Losung; sie ist eine sicherheitspolitische Strategie mit ausgearbeiteten Strukturelementen. Als umfassende Sicherheit hat sie die Potenz einer Jahrhundertstrategie. Doch sie ist heute aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verdrängt. Die Friedensbewegung vertritt eher einzelne friedenspolitische Forderungen, als sie in eine konsistente Gesamtstrategie einzuordnen. Eine Revitalisierung der Konzeption und Politik Gemeinsamer Sicherheit, angepasst an die veränderten Bedingungen, könnte und sollte dieses Defizit korrigieren. Zu prüfen ist die Tauglichkeit von Prinzipien Gemeinsamer Sicherheit unter den veränderten gegenwärtigen Bedingungen:
Sicherheit nur miteinander
Erstens: Ausgangspunkt der Konzeption Gemeinsamer Sicherheit war die gemeinsame Bedrohung durch einen atomaren Krieg. Egon Bahr betrachtete dieses Konzept als »Anspruch, die politische Doktrin des atomaren Zeitalters zu sein«. Heute ist die gemeinsame Bedrohung größer als je zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges. Nur ist sie weit komplexer geworden.
Zweitens: Aus der gemeinsamen Bedrohung folgt, diese gemeinsam abwenden zu müssen. Auch davor gibt es kein Entrinnen. »Sicherheit ist nicht mehr gegen-, sondern nur noch miteinander zu haben«, schrieb Olof Palme. Paktieren mit dem Satan im Kreml also? Bahr argumentierte: »Abschreckung besagt nämlich: der Gegner, so böse er immer sein mag, ist vernünftig. Er lässt sich abschrecken.« Sonst hätte diese Doktrin keinen Sinn.
Drittens: Ideologische Gegensätze dürfen zwischenstaatliche Beziehungen nicht vergiften, nicht dazu führen, die innere Verfasstheit eines Landes von außen verändern zu wollen. Auch nicht mit dem Anspruch, Demokratie gegen Autokratie durchsetzen zu wollen. Gegen dieses völkerrechtliche Prinzip verstößt der russische Angriffskrieg. Dagegen verstießen seit Jahrzehnten die Interventionskriege der USA im Rahmen ihrer »globalen Ordnungspolitik«. Ihr desaströser Ausgang in Vietnam, Irak und Afghanistan verweist auf die Aussichtslosigkeit solcher Interventionen. Das legt äußerste Zurückhaltung beispielsweise im Taiwan-Konflikt nahe.
Reformfähig?
Viertens: Gemeinsame Sicherheit setzt Anerkennung der Friedens- und Reformfähigkeit aller Beteiligten voraus. In den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts kamen die Verträge über Rüstungskontrolle und Abrüstung nur deshalb zustande, weil die beteiligten Seiten die Fähigkeit der Gegenseite zu progressiven inneren Veränderungen voraussetzten. Inzwischen zerbrach der Staatssozialismus in Europa an seiner Reformunfähigkeit. Der Westen schlug sich besser, aber nur begrenzt. Die größten globalen Probleme blieben ungelöst, die Gefahr eines Atomkrieges größer als seit Jahrzehnten, die ökologische Krise global existenzbedrohend. Milliarden werden in Rüstung und Krieg verpulvert, die für die überfälligen großen sozialen und ökologischen Reformen fehlen.
Aber die russische Führung reformfähig? Immerhin, mit Putin ließ sich das Abkommen über Weizenexporte aus der Ukraine aushandeln. Im Atomkraftwerk Saporischschja waren Inspektionen der Internationalen Atomenergiebehörde möglich. Austausch von Gefangenen kam zustande. Einige Kategorien modernster Waffensysteme wurden bisher nicht eingesetzt. Gegen den Aufstand Prigoshins hätte Putin seine Elitetruppen mobilisieren können. Aber er zog dem Gemetzel im eigenen Land einen Deal mit dem Abtrünnigen vor.
Sollten solche Momente mit äußerster Vorsicht als minimale Zeichen von Rationalität der russischen Führung gedeutet werden? Und müssen solche Ansätze durch Kompromissangebote gestärkt werden? Die vier großen deutschen Friedensforschungsinstitute forderten in ihrem Friedensgutachten 2022 mit dem beachtenswerten Titel »Friedensfähigkeit in Kriegszeiten«: »Das heißt, auch Russland muss etwas angeboten werden, damit es sich auf Verhandlungen über ein Kriegsende einlässt. Der Westen sollte daher nicht allein auf eine militärische Lösung setzen, denn nur ein Verhandlungsfrieden (und nicht ein Siegfrieden) hat Aussicht, einigermaßen dauerhaft zu sein.«
Fünftens: Das Miteinander anstelle des Gegeneinander ist nur Schritt für Schritt in längerem Verlauf erreichbar. Wie entrinnt man einer ausweglosen Lage, wurde 1986 am Hamburger Friedensforschungsinstitut gefragt und entgegnet: »Die Antwort ist (wenn gefunden) trivial: indem man zumindest alles unterlässt, was das System (wechselseitiger Aufrüstung und Bedrohung) aufrechterhält.« Um »Anfangsimpulse« ginge es: Kriegsrhetorik zu unterlassen; Feindbilder abzubauen; das Kappen von Gesprächsfäden zur russischen Seite zu stoppen; die eigene Bedrohlichkeit zu mindern, beispielsweise perspektivisch mit dem Ausstieg Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe.
Kooperation – elementares Gebot
Sechstens: Wenn Frieden nur noch miteinander erreicht werden kann, wird Kooperation zum Gebot in den internationalen Beziehungen. Dazu gehört, dass sich beide Seiten ihre elementaren Interessen eindeutig mitteilen, damit die andere Seite Felder gebotener Zurückhaltung respektiert und Probleme kooperativ bearbeitet werden können. Hätten doch die USA und ihre Verbündeten die Verständigungsangebote und die eindeutigen Warnsignale Putins in seinen Reden 2001 im Bundestag und auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 ernst genommen, statt die Nato gen Osten zu erweitern und die Ukraine an sie zu binden! Und würden doch heute die Warnungen der chinesischen Führung vor westlicher Einmischung in der Taiwan-Frage ernst genommen werden.
Eine gleichgewichtige Kooperation mit Russland und China ist langfristig unverzichtbar. Sich dem Wirtschaftskrieg der USA gegen China zu verweigern, sollte als Interesse der Bundesrepublik an eigener Stabilität erkannt werden. In der Vergangenheit gab es nicht zu viel Kooperation, sondern zu wenig Einbettung von Kooperationsbeziehungen in Entspannungspolitik.
Strukturelle Angriffsunfähigkeit
Siebentens: Gemeinsame Sicherheit ist als Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozess zu verstehen, der langfristig in eine neue Europäische Sicherheitsstruktur mündet, als Gegenstrategie zu Abschreckung und Krieg. Aber vorerst ist Abrüstung nicht in Sicht. Zur Lösung dieses Widerspruchs hat der Philosoph Albrecht von Müller eine neue Waffenstruktur »in Richtung einer eindeutigen, wechselseitigen Verteidigerdominanz als einen qualitativ neuen Lösungsansatz« vorgeschlagen. Wenigstens sollte die Verteidigungsfähigkeit beider Seiten eindeutig größer werden als die Angriffsfähigkeit. Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit nannten das die Väter des Konzepts Gemeinsamer Sicherheit. Das wäre Teil einer Alternative zur Lieferung von Offensivwaffen an die Ukraine.
In der öffentlichen Meinungsbildung stehen die Zeichen auf mehr Rüstung und mehr Feindbilder, auf Sieg im Krieg. Gegenstimmen werden niedergemacht. Intoleranz überlagert den Diskurs. Der Kalte Krieg ist zurück. Die Friedenskräfte sind noch ohne eine deutlich erkennbare Gegenstrategie. Aber die existiert in Gestalt der Doktrin Gemeinsamer Sicherheit. Angepasst an die seit den Zeiten der Systemkonfrontation veränderten Bedingungen, an die Situation von Krieg in Europa und an geopolitische Veränderungen, hat sie das Potenzial einer Roadmap zu einer neuen Europäischen Friedensordnung. Nur – der Weg dahin muss begangen werden!
Prof. Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Ökonom sowie Politikwissenschaftler und hatte einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität inne. Maßgeblich wirkte er am Forschungsprojekt »Moderner Sozialismus« mit. Dieter Klein ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne, gehört unter anderem dem Willy-Brandt-Kreis an und arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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