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Tour de France der Frauen: Der Mythos Tourmalet als Meilenstein
Die Radsportlerinnen erklimmen bei der Tour de France erstmals den Tourmalet
Zeiten ändern sich. Als 1910 der Tourmalet das erste Mal von den Radsportlern der Tour de France befahren wurde, konnten sich die Organisatoren vor deren Flüchen kaum retten. Als »elende Mörder« bezeichnete sie Octave Lapize. Er kam zuerst auf dem 2110 Meter hohen Gipfel an, gewann später auch die Rundfahrt. Aber er war schwer erschöpft. Auf grobkörnigen Fotografien kann man sehen, wie er mit gebeugtem Körper, zwei Fahrradschläuche auf dem Rücken, sein Rad die Passstraße hochschiebt. Tour-Gründer Henri Desgrange hatte den Tourmalet übrigens nur deshalb ins Programm genommen, weil sein Assistent Hugo Steines ihn ausgetrickst hatte. Steines hatte im Frühjahr 1910 an seinen Chef telegrafiert: »Bin gut über den Tourmalet gekommen. Stopp. Strasse in gutem Zustand. Stopp. Keine Schwierigkeiten für die Fahrer«. Selbst war er damals aber gar nicht bis zum Gipfel vorgestoßen. Denn es lag noch Schnee. Und sein Chauffeur hatte aus Angst vor Bären ein Umkehren erzwungen: Steines war eben nicht mit dem Rad dort hochgefahren, sondern mit dem Auto.
Wenn jetzt an diesem Sonnabend das Peloton der Frauen den gleichen Gipfel erstürmt, kann sich die Rennchefin Marion Rousse sicher sein, nicht beschimpft zu werden. Der Zustand der Straße ist bekannt: 84-mal stand der Tourmalet seit 1910 im Programm der Frankreich-Rundfahrt. Bären gibt es immer noch, aber die halten sich bei all dem Fan-Geschrei, der Werbekarawane und den Fahrzeugkolonnen vor und nach dem Fahrerfeld in ihren Höhlen versteckt. Und von Rousse kann man schließlich auch nicht sagen, dass sie den Berg nicht kennt. Sie moderiert seit Jahren die Tour für das französische Fernsehen. »Und ich bin auch mit dem Rad den Tourmalet hoch, nicht im Wettkampf zwar, aber im Training«, versicherte die einstige Radsportlerin »nd« vor der schweren Etappe.
Tom Mustroph, Radsportautor und Dopingexperte, berichtet zum 22. Mal für »nd« von der Tour de France.
Daher ist die Laune im Feld der Fahrerinnen bei der Aussicht auf den Gipfel auch eher freudig bis euphorisch. »Ich hoffe, wir werden viel Spaß da oben haben«, sagte die Schweizerin Marlen Reusser vom dominierenden Rennstall SD Worx und lacht. »Ich habe viel Respekt. Aber ich freue mich auch drauf, weil es ein schöner Berg ist und endlich mal ein etwas längerer, bei dem ich mein Tempo finden kann«, erzählte Deutschlands neue Klettergöttin Ricarda Bauernfeind »nd«. Die 23-Jährige hatte die fünfte Etappe dieser Tour de France Femmes gewonnen.
»Ich bin froh, dass wir diesen mythischen Pyrenäengipfel jetzt auch bezwingen dürfen«, sagte Annemiek van Vleuten. Alles andere wäre auch verwunderlich. Die Niederländerin war vor sechs Jahren schon auf dem Alpenpass Col d’Izoard die Schnellste, als die Vorgängerveranstaltung der Tour, das Eintagesrennen La Course by Le Tour, von Briançon zum Izoard führte. Van Vleuten zählt zu ihren Hausbergen, wenn sie ins Höhentrainingslager nach Livigno geht, Giganten wie Stilfser Joch, Mortirolo und Gavia. Das sind allesamt Gipfel des Giro d’Italia. 60 bis 90 Tage verbringe sie pro Jahr beim Höhentraining, erzählt ihr Sportlicher Leiter beim Rennstall Movistar, Jorge Unzue, »nd«.
Höhentrainingslager sind mittlerweile auch im Radsport der Frauen Pflichtprogramm. Zumindest bei den großen Teams, deren Budget das hergibt. Und viele waren auch am Tourmalet. »Ja, wir sind den Berg schon mal gefahren im Training, haben ihn uns angeguckt«, bestätigt Bauernfeind »nd«. »Jede von uns hat ihr eigenes Training gemacht, ist eigene Intervalle gefahren, denn man muss ja auch schauen, wie es in der Höhe, über 1600 Meter, so geht und wie man damit zurechtkommt«, erzählt die Ingolstädterin. Sie selbst kam ganz gut damit zurecht: »Ich habe keinen Unterschied zu sonst gemerkt.«
Was Bauernfeind an diesem Sonnabend zu leisten imstande ist, hängt aber nicht allein von ihr selbst ab, sondern auch von den taktischen Plänen ihres Leipziger Teams Canyon SRAM. Das will die Kapitänin Katarzyna »Kasia« Niewiadoma am Tourmalet auf dem Podium platzieren, am liebsten auf der Stufe ganz oben. Und dafür wird Bauernfeind wohl eher Helferinnendienste verrichten müssen. »Unser Hauptaugenmerk liegt auf dem Klassement. Und da ist Kasia besser platziert«, stellt Bauernfeind die Prioritäten dar. Niewiadoma, Tour-Dritte im vergangenen Jahr, ist mit ihren Hauptrivalinnen van Vleuten und der Italienerin Elisa Longo Borghini gleichauf. Demi Vollering, letztes Jahr Zweite und neben Titelverteidigerin van Vleuten Top-Favoritin auf den Gesamtsieg, liegt etwas dahinter.
Auch für Deutschlands zweite Top-Kletterin, Liane Lippert, wie Bauenfeind ebenfalls schon Etappensiegerin bei dieser Tour, sind vor allem Helferdienste vorgesehen. Sie soll für ihre Teamkollegin van Vleuten arbeiten. Allerdings öffnet sich nach ihrem Etappensieg auch ein kleines Fenster für eigene Chancen. »Mein Sportlicher Leiter meinte: ›Ah, du kannst doch arbeiten und trotzdem noch fahren‹«, sagte sie nach der fünften Etappe, als sie Tages-Dritte wurde. »Aber schauen wir mal, was an diesem Tag alles gebraucht wird«, blickte Lippert gelassen voraus.
Eine gute Rolle könnte auch die derzeit bestplatzierte Nachwuchsfahrerin spielen. Cedrine Kebaol vom zweiten deutschen Rennstall Ceratizit WNT kommt aus der Gegend von Pau. »Sie kennt jeden Quadratzentimenter dort, und es ist für sie natürlich eine große Motivation, das Weiße Trikot bis nach Hause zu bringen«, meinte Teamchef Dirk Baldinger zu »nd«. Der Tourmalet verspricht also ein tolles Kräftemessen. Ihn zu erklimmen, ist ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Radsports der Frauen.
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