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Abkehr von den Schlangen

Ein soziales Wohnungsbauprogramm ebnet in der philippinischen Hauptstadt Manila Wege aus den Slums entlang der Flüsse

  • Felix Lill, Manila
  • Lesedauer: 7 Min.
Für 120 Familien aus den Slums hat die Organisation Habitat for Humanity bezahlbare Wohnungen gebaut.
Für 120 Familien aus den Slums hat die Organisation Habitat for Humanity bezahlbare Wohnungen gebaut.

Wenn Bonifacio Florece von den Schlangen erzählt, die sich manchmal in seine Wohnung verirrten, breitet er die Arme so weit aus, wie er kann. »So groß waren die, etwas größer noch.« Aus dem Pasig River, neben dem seine Hütte gebaut war, kamen sie immer dann, wenn es stark geregnet hatte. »In der Küche hatte ich schon ein großes Messer, um die Familie zu beschützen«, sagt der 60-Jährige und lacht ungläubig in Erinnerung. »Angenehm war das nicht!« Einmal habe seine Frau auch im Plumpsklo eine größere Schlange gesehen. »Etwas Angst hatten wir eigentlich immer.«

Lange Zeit sah es nicht so aus, als würde sich die Wohnsituation für ihn und seine Familie verbessern. Im Gegenteil, sie hat sich verschlimmert. »Im September 2009 kam der Taifun Ondoy nach Manila«, holt Bonafacio Florece aus, aber schweigt dann einen Moment. Dieser und der kurz darauf folgende Taifun Pegeng verursachten schwere Regenfälle und Überflutungen, kosteten an die 1000 Menschenleben, betrafen rund 9,3 Millionen Menschen im Land. »Einen Monat mussten wir auf unserem Wellblechdach wohnen«, sagt der Bezirksangestellte. »Die Geburtsurkunden meiner Töchter gingen verloren und alles Mögliche.« Aber dann, immerhin, kam Hilfe.

Bonifacio Florece, ein älterer Herr mit breitem Lächeln, führt zufrieden durch seine neue Wohnung. Auf 20 Quadratmetern hat er eine gut ausgestattete Küche, einen Flatscreen vor einer Sofaecke und ein großes Bett, oben drüber noch ein halbes Stockwerk, wo die Kinder schlafen. »Eine Toilette mit Abwasseranschluss haben wir auch«, versichert er. »Ach, ist Ihnen vielleicht zu warm?« Florece deutet an, er könne ja die Klimaanlage anmachen. Denn all das, wovon früher nur zu träumen war, gebe es jetzt. »Hier in Pasig 1 ist wirklich alles besser.« Und er kenne niemanden, der das anders sehe.

»Pasig 1« ist der Name einer Siedlung, die vor gut zehn Jahren praktisch umgezogen ist. 120 Familien, die in der Nähe des Pasig River im Zentrum der Metropolregion Manila lebten, wohnen heute in einem neuerrichteten Wohnkomplex einige Kilometer entfernt, wo nicht mehr die Gefahr regelmäßiger Überschwemmungen besteht. Es gibt jetzt ein funktionierendes Drainagesystem aber fast noch wichtiger: Florece und die anderen Bewohner besitzen einen offiziellen Titel für ihre Wohnungen, sie können also nicht vertrieben werden. »Das hier ist ja kein Slum«, erklärt er stolz.

In den Philippinen, der Heimat von Florece, ist so eine Aussage einiges wert. Das südostasiatische Land mit 114 Millionen Einwohnern hat gerade in der boomenden Hauptstadtregion Manila seit Jahren damit zu kämpfen, dass die Bevölkerung schier unkontrollierbar wächst und sich gerade die irregulären Siedlungen vergrößern, in denen es in der Regel an Abwassersystemen, Brandschutzvorkehrungen und oft auch legalem Stromanschluss fehlt. Und wenn die Besitzverhältnisse nicht geklärt sind, werden die Bewohner nicht selten kurzerhand vertrieben.

In den Philippinen leben nach Angaben der Weltbank 37 Prozent der urbanen Bevölkerung in Slums. Das Problem ist aber kaum auf dieses Land beschränkt. Weltweit wird die Slumbevölkerung auf mehr als eine Milliarde Menschen geschätzt – mit steigender Tendenz, um die Jahrtausendwende lag die Zahl noch um rund 165 Millionen niedriger. Entscheidende Faktoren hinter dieser deutlichen Zunahme sind einerseits die weiterhin wachsende Gesamtweltbevölkerung, andererseits die ebenso fortschreitende Urbanisierung. Auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten zieht es Menschen weltweit nach wie vor in die Städte.

Und diejenigen, denen das Geld fehlt, um einen regulären Miet- oder gar Kaufvertrag für eine Wohnung oder ein Haus zu unterschreiben, verschlägt es schnell in irreguläre Siedlungen. Dort bauen viele Menschen ihre Behausungen entweder oft mit eigenen Händen oder sie mieten Hütten, die jemand anderes gebaut hat, um damit Geld zu verdienen. Problematisch ist bei den nicht genehmigten Häusern in den Slums in aller Regel keine Sicherheitsvorschriften eingehalten werden.

Generell sind Bewohner irregulärer Siedlungen benachteiligt. Ihnen fehlt Rechtssicherheit, was den Wohnraum angeht. Das führt nicht selten zu weiteren Problemen: Von ihren Vermietern können sie kaum Renovierungen verlangen, wenn es im Haus schimmelt. Die Hygieneumstände in Slums sind oft schlecht und bergen Gesundheitsrisiken. Und dann ist da nicht selten ein soziales Stigma, in einem Slum zu wohnen, was wiederum zu Diskriminierung in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt führt.

Hinzu kommt, dass das Leben in Slums durch den Klimawandel immer gefährlicher wird, da irreguläre Siedlungen wie in Pasig häufig dort gebaut werden, wo das Katastrophenrisiko ohnehin schon hoch ist – und durch die Erderwärmung noch steigt. Denn im Klimawandel werden Extremwetterereignisse tendenziell vielerorts nicht nur häufiger, sondern auch weniger vorhersehbar und wuchtiger. Kurzum: Das Gefahrenpotenzial nimmt zu.

Dass Bonifacio Florece ein Umzug in eine reguläre Siedlung gelungen ist, war aus Sicht seiner Familie pures Glück. »Angestellte von der Regierung und dieser NGO kamen schon vor dem Taifun Ondoy in unsere Gegend und stellten sich vor«, erinnert er sich. Man plante bereits einen neuen Wohnkomplex an anderer Stelle zu errichten, um den Bewohnern bessere Möglichkeiten zu bieten. Zuerst verzögerte sich das Vorhaben immer wieder. Nach den verheerenden Schäden des Taifuns ging es dann schnell.

Hinter dem Projekt steht die Nichtregierungsorganisation Habitat for Humanity, die sich seit ihrer Gründung vor gut vier Jahrzehnten dem Ab- und Wiederaufbau von Slums widmet. »Jeder verdient ein anständiges und sicheres Zuhause«, sagt Lala Baldelovar in einem Café in Makati, einem wesentlich wohlhabenderen Viertel von Manila, wo Habitat for Humanity ihre Zentrale hat. Für Baldelovar, die für die Organisation Spenden einwirbt, ist die Sache klar: »Milionen Filippinos leben unter ärmlichen Bedingungen. Nur eine echte Partnerschaft zwischen Privatsektor und öffentlicher Hand kann die Probleme dieser komplexen Wohnsituation lösen.«

In der Entwicklungspolitik ist dies Konsens: Ist ein Gebäude solide errichtet, werden im Katastrophenfall weniger Schäden verursacht. Dies wiederum verringert die Wiederaufbaukosten tendenziell um ein Vielfaches. Habitat for Humanity legte im Rahmen des vergangenen G7-Gipfels in Hiroshima eigene Schätzungen vor: Würden die Slums der Welt in reguläre, widerstandsfähige Baukomplexe umgewandelt, wüchse die Weltwirtschaft um bis zu 10,5 Prozent. Mehr als 730 000 Menschenleben könnten jährlich gerettet, 41,6 Millionen Kinder zusätzlich eingeschult werden.

In den Philippinen arbeitet die Organisation unter anderem mit dem deutschen Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zusammen, außerdem mit Baukonzernen, die in den Philippinen rechtlich dazu angehalten sind, einen Teil ihrer Investitionen in gemeinnützige Vorhaben zu investieren. Die öffentliche Hand stellt das Land häufig günstig zur Verfügung. Seit 1988 hat die Organisation auf diese Weise nach eigenen Angaben 3,8 Millionen Menschen ein neues oder aufgewertetes Zuhause ermöglicht.

Um möglichst viele Menschen zu erreichen, hat sich Habitat for Humanity ein kostensparendes, wenn auch schweißtreibendes Konzept ausgedacht. In Pasig 1 verzieht Maria Josy Millan das Gesicht, wenn sie nur daran denkt. »Wir mussten selbst mit anpacken. Ich hatte überhaupt keine Erfahrungen beim Hausbauen.« Pro Familie, die sich für den Umzug beworben hatte, mussten insgesamt 400 Stunden auf der Baustelle eingebracht werden. »Ich hab’ über ein halbes Jahr jede Woche Zement geschleppt«, erinnert sich die 54-jährige Angestellte einer Dosenfabrik und muss irgendwie doch lachen.

Immerhin war der Umzug auf diese Weise günstig. »Eine Wohnung in einem Gebäude aus Ziegeln, mit Fliesenboden und allen grundsätzlichen Notwendigkeiten können wir auf diese Weise für 450 000 bis 530 000 Pesos errichten«, so Lala Baldelovar. Das entspricht rund 8700 Euro. Und dies wiederum zahlen die Floreces, Millans und weitere Familien über 20 bis 30 Jahre ab. »Das ist jetzt sogar günstiger als die Miete vorher im Slum«, sagt Bonifacio Florece. Einen Flatscreen hätte er sich sonst kaum leisten können.

Selbst falls es sich bei den Zahlen, mit denen Habitat for Humanity die weltweit möglichen Auswirkungen eigener Aktivitäten beziffert, um eine Übertreibung halten sollte: Die Lebensveränderungen für diejenigen, die ein neues Zuhause erhalten, sind enorm. Wobei Lala Baldelovar zugibt: »Gemessen an dem, was nötig wäre, erreichen wir leider fast nichts.« Allein der Taifun Rai, der Anfang 2022 die Philippinen erreichte, zerstörte 200 000 Häuser. Womit sich die Zahl derer, die plötzlich mit Schlangen leben mussten, wieder auf einen Schlag erhöht haben dürfte.

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