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Jugend als Ware
Der Science-Fiction-Film »Paradise« erzählt von einer Zukunft, in der arme Menschen ihre Lebensjahre an Reiche verkaufen
Lässt sich die Lebenszeit von Menschen als Ware oder Wertgegenstand verkaufen? In unserer von Lohnarbeit geprägten Gesellschaft passiert das ja tagtäglich. Aber im Science-Fiction-Film »Paradise« ist es sogar möglich, die Lebenszeit von Menschen mittels einer Technologie quasi abzusaugen und anderen Menschen zu injizieren, wenn sie genetisch kompatibel mit dem sogenannten Spender sind. Das weltweite Patent auf diese Technologie hat der in Berlin ansässige Konzern Aeon, dessen Mitarbeiter vor allem in Geflüchteten-Camps Menschen rekrutieren, die zum Beispiel zehn Jahre »spenden«, wie das euphemistisch genannt wird, und dafür mehrere Hunderttausend Euro erhalten.
Ganz besonders erfolgreicher Donation-Manager ist Max (Kostja Ullmann), der gleich zu Beginn des Films im Geflüchteten-Camp auf dem Tempelhofer Feld, das komplett mit Container-Baracken vollgestellt ist, einem jungen geflüchteten Mann für eine sechsstellige Summe 15 Jahre Lebenszeit abkauft. Damit, so verspricht er, werde die Familie das Camp verlassen und einen Laden eröffnen können. Eher widerwillig, auch auf Druck der Eltern, unterschreibt der 18-Jährige. Nach einer OP altern die Spender innerhalb weniger Tage um die verkaufte Lebenszeit.
Boris Kunz’ Science-Fiction-Film, eine vergleichsweise aufwendige, deutsche Netflix-Produktion, inszeniert eine schöne neue Welt mit Elektroautos, begrünten High-Tech-Innenstädten, fortgeschrittener Digitalisierung und Biotechnologie, sogar der Klimawandel wurde aufgehalten. Altern ist für die, die es sich leisten können, kein Problem. Aber das sind die wenigsten. Denn die Dienstleistung von Aeon ist den oberen Zehntausend und den Promis vorbehalten. Unter anderem moderiert eine Art jugendlicher Ulrich Wickert eine Nachrichtensendung.
Der gut angepasste und erfolgreiche Max, der mit seiner Partnerin Elena (Marlene Tanzcik) in einer superschicken Wohnung in der City lebt, lernt von einem Tag auf den anderen aber plötzlich die Kehrseite dieses Systems kennen. Ihre Wohnung brennt ab, die Versicherung weigert sich zu zahlen, der Kredit für das Luxus-Apartment wird fällig und die Sicherheit sind 38 Lebensjahre von Elena. Diese wird nachts von der Polizei festgenommen wegen Fluchtgefahr im Zuge einer Zwangsvollstreckung, wie das im Beamtendeutsch dieser nahen Zukunft heißt, und kurze Zeit später wird sie operiert. Max und seine gealterte Frau (Corinna Kirchhoff) müssen in einen heruntergekommenen Wohnblock in die Peripherie ziehen. Alle Versuche von Max, bei seiner Chefin Sophie Theissen (Iris Berben), die ihn gerade noch zum Mitarbeiter des Jahres ausgezeichnet hat, zu intervenieren, scheitern. Denn der Vorgang ist auch umkehrbar. Eine illegale Klinik in Estland wird zum letzten Rettungsanker.
»Paradise« ist ein packender Thriller, der gegen Ende mit jeder Menge Action aufwartet. Denn es gibt auch eine terroristische Gruppe, die mehrere verjüngte Nobelpreisträger hinrichtet und die kapitalistische Selektion und Inwertsetzung reicher und berühmter Menschen mit brachialer Militanz beantwortet. Es wird aber auch viel diskutiert in diesem Film. Manchmal sind die Dialoge etwas zu platt, aber »Paradise« versucht die Zwiespältigkeit um die Frage moralisch richtigen Handelns in einer Situation zu inszenieren, in der alles aus den Fugen gerät.
Max und Elena setzen schließlich alles auf eine Karte und entführen eine gerade verjüngte Mitarbeiterin aus der Chefetage von Aeon, die als mögliche Spenderin das Altern Elenas wieder rückgängig machen könnte. Bald ist ihnen der ganze Sicherheitsapparat des Konzerns auf den Fersen durch halb Europa. In Estland kommt es zum großen Showdown. »Paradise«, bei dem zahlreiche nicht-weiße, deutsche Schauspieler*innen unter anderem auch in tragenden Rollen mit dabei sind, wie etwa Aeons Security-Chefs Lorna Ishema und Numan Acar, ist eine Allegorie auf kapitalistische Wertschöpfung und die Vernutzung menschlicher Lebenszeit. Dabei lässt sich der Film auch als deutliche Kritik am Umgang mit Geflüchteten lesen, was im deutschen Kino selten ist.
»Paradise« auf Netflix
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