Solange wir atmen

Die Liebe ist die größte Kraft – manchmal: »Im Herzen jung« verhandelt die zwischen Älter und Jünger

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Es ist ihnen ernst: Shauna (Fanny Ardant) und Pierre (Melville Poupaud).
Es ist ihnen ernst: Shauna (Fanny Ardant) und Pierre (Melville Poupaud).

Was haben Heidi Klum, Brigitte Macron und Ina Müller gemeinsam? Nun, eigentlich etwas völlig Unspektakuläres: Alle sind mit einem Mann zusammen, der deutlich jünger ist als sie. Doch während es in unserer patriarchalen Gesellschaft als völlig normal gilt, wenn ein älterer Mann eine jüngere Frau liebt, sorgt der umgekehrte Fall immer noch für großes Befremden. Umso wichtiger, dass auch diese Liebesgeschichten öfter im Kino erzählt werden.

Die bekannteste (und schon ziemlich alte) ist »Harold und Maude« – Hal Ashbys zeitlos bezauberndes Meisterwerk, in dem sich ein depressiver 18-Jähriger in eine lebensfrohe 80-Jährige verliebt. Auch Nicolette Krebitz befasste sich im letzten Jahr mit diesem Thema. In ihrer romantischen Komödie »AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe« geht es um eine Amour fou zwischen einer von Sophie Rois verkörperten älteren Frau, die als Sprachcoach arbeitet, und ihrem jungen Schüler, dem sie das Nuscheln austreiben soll.

Nun nimmt sich Carine Tardieu (»Eine bretonische Liebe«) in ihrem Melodram »Im Herzen jung« einer wahren Liebesgeschichte an, die eigentlich die isländisch-französische Filmemacherin Sólveig Anspach verfilmen wollte – und zwar das Leben ihrer Mutter. Doch Anspach hat das nicht mehr geschafft, sie starb 2015. Die Hauptrolle der 70-jährigen Shauna besetzte Tardieu kongenial mit Fanny Ardant, die in den Filmen des späten François Truffaut bekannt wurde. Melville Poupaud, der bereits in Xavier Dolans Meisterwerk »Laurence Anyways« bewiesen hat, dass er die Liebe in ihren feinsten Nuancen herzzerreißend auf die Leinwand zu bringen vermag, spielt den 45-jährigen Onkologen Pierre, der auf Anhieb von Shauna fasziniert ist.

Zum ersten Mal begegnen sich die beiden unter widrigen Umständen: Shauna leistet in einem Krankenhaus in Lyon ihrer todkranken Freundin Beistand. Pierre ist der behandelnde Arzt und gleichzeitig der beste Freund des Sohnes der Sterbenden, Georges (Sharif Andoura). Shauna und Pierre sitzen dann länger in der Cafeteria des Krankenhauses und unterhalten sich.

15 Jahre später übernachtet Pierre mit seinem Kumpel Georges nach einem Kongress spontan im ehemaligen Ferienhaus seiner Mutter an der rauen Südwestküste Irlands. Wie freudig überrascht ist er, als er Shauna wiederbegegnet, die gelegentlich zum Ausspannen dorthin fährt! Pierre erkennt sie sofort, hat sie nie vergessen können, während Shauna ein Weilchen braucht, um sich an ihn zu erinnern. Die ungewöhnliche Vertrautheit, die sich sofort wieder zwischen ihnen einstellt, hilft ihrem Gedächtnis jedoch rasch auf die Sprünge.

Als Shauna nachts am Strand nach dem Hofhund sucht – eingefangen in stimmungsvollen Day-for-night-Aufnahmen von Kamerafrau Elin Kirschfink –, gesellt sich Pierre zu ihr. Spätestens ab diesem Moment fiebert man mit Shaunas pochendem Herzen mit. Realistischerweise wehrt Shauna sich aber lange gegen ihre Gefühle, kann sie sich doch einfach nicht erklären, warum dieser Mann sie ganz offensichtlich begehrenswert findet. Für die ehemalige Architektin, die nie die große Liebe erfahren hat, ist eine Beziehung mit einem 25 Jahre jüngeren Mann, der zudem verheiratetet ist und zwei Kinder hat, einfach undenkbar.

Mit diesem Thema hat Shauna, die eine erwachsene Tochter aus einer unglücklichen Ehe hat, längst abgeschlossen. Ganz anders Pierre, für den der Altersunterschied keine Rolle spielt und der sich hoffnungslos verliebt hat in diese »strahlende Frau, die auf Zehenspitzen durch ihr Leben geht«.

Nachdem sie sich in Paris wiedergetroffen und zum ersten Mal geküsst haben, offenbart der grundehrliche Mann seiner Frau Jeanne (Cecile de France) sofort, dass er sich verliebt hat. Als er ihr erzählt, dass es sich um Shauna handelt, lacht sie unwillkürlich. Jeanne kann zunächst nicht begreifen, dass er sich tatsächlich in »eine alte Frau« verliebt hat. Auch sein Kumpel Georges ist darüber schockiert und wendet sich von ihm ab – erst mal.

Es ist ein großes Verdienst dieses einfühlsamen und niemals voyeuristischen Films, dass auch die Nebenfiguren Tiefe und Entwicklungspotenzial haben. Jeanne erkennt nach und nach, dass es ihrem Mann ernst ist, und entschließt sich aus Liebe zu ihm zu einem selbstlosen Schritt.

Auch Georges macht eine Wandlung durch, schließlich hat er ebenfalls seine Probleme mit der Liebe, ebenso wie Shaunas Tochter Cécilia, die großartig von Florence Loiret-Caille verkörpert wird. Als sie ihre Mutter und Pierre zum ersten Mal zusammen erlebt, kann sie sich überhaupt nicht vorstellen, dass die beiden sich lieben, obwohl die Anzeichen recht eindeutig sind.

Als bei Shauna jedoch ihre bereits diagnostizierte Parkinson-Erkrankung ausbricht, kommen der »Frau ohne Zukunft« – wie sie sich selbst einmal bezeichnet – wieder Zweifel. Soll sie mit Pierre zusammenbleiben, »solange sie noch atmet«?

»Im Herzen jung«, Frankreich/Belgien 2021. Regie: Carine Tardieu, Drehbuch: Sólveig Anspach u. a. Mit Fanny Ardant, Melville Poupaud, Cécile de France, Florence Loiret-Caille, Sharif Andoura. 97 Min., Kinostart: 3.8.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -