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Fußball-WM: Wie die Frauen Australien erobern
Die Weltmeisterschaft der Fußballerinnen ist in Down Under ein Event der Gelassenheit – eine von vielen wichtigen Botschaften
Cody Smith stellt auf dem Parkplatz sogar den Motor ab. Um ein bisschen weiterzureden. So oft spricht der Australier ja nicht mit ausländischen Gästen über Fußball. Er ist mittlerweile überzeugt davon, dass die »Matildas«, das australische Nationalteam der Frauen, den männlichen »Socceroos« gerade den Rang ablaufen. Der 44-Jährige gehörte zu den 2,7 Millionen Einheimischen, die beim Sender »Channel 7« am Montag sahen, wie die Gastgeberinnen gegen die Olympiasiegerinnen aus Kanada ins Achtelfinale dieser Weltmeisterschaft stürmten – mit einer Rekord-Einschaltquote im Fernshen, 52 Prozent Markanteil. Auch Smith hat dieses WM-Spiel mitgerissen. Great! »Ich schaue jetzt lieber unseren Frauen als den Männern zu. Sie spielen den Ball schneller, sie sind härter, sie suchen mehr Risiko. Wenn sie so weitermachen, werden wir Weltmeister.« Why not?
Smith kommt aus Bateau Bay an der Central Coast, hat zwei Söhne und mehr als drei Jahre in Liverpool gelebt. Mehr muss er nicht sagen. Anfield Road und so weiter ... Daher taucht der Fußball in seiner Wertschätzung zwar nicht ganz vorne, aber auch nicht so weit hinten auf. Er weiß, dass die Central Coast Mariners, beheimatet in Gosford, wo der bekannte Reptilien-Park steht, kürzlich überraschend australischer Fußballmeister geworden sind. Dort trainieren die Europameisterinnen aus England, unweit davon, in Terrigal, sind sie untergebracht. Ein toller Ort, sagt er. Dass die Deutschen sich hingegen in Wyong einquartiert haben, versteht er nicht. Aber einmal habe er jemand aus der Delegation des Deutschen Fußball-Bundes dorthin gefahren. Den Namen hat er vergessen. Nette Leute wie Smith, die neben ihrem Job noch ein bisschen Taxi für das Unternehmen Uber fahren, trifft man hier überall. Mehrfach am Tag. Gibt es ein offeneres Volk als diese Australier? Leben und leben lassen.
Es ist genau diese Grundhaltung, die dieses Turnier in Down Under prägt. Es ist das Kontrastprogramm zur politisch, gesellschaftlich und moralisch völlig überfrachteten WM der Männer in Katar. Im Emirat gab es auch keine Sicherheitsprobleme, keine Fanausschreitungen (und keinen Alkohol), aber es war ein Kunstprodukt. Stadien wurden in die Wüste gepflanzt, ohne nachhaltigen Nutzen. Das ist hier anders. Die Spielstätten gab es alle schon – nur in den meisten wird sonst nur kein Fußball gespielt.
Es läuft gerade ein Event der Gelassenheit. Mit dem ab Sonnabend startenden Achtelfinale kommen die hochkarätigen Spiele, die den Fortschritt bei den Frauen belegen werden. Mit viel Spektakel und Dramatik. Und ohne echten Favoriten. Es wird nur um Sport, nur um den Fußball gehen. Eigentlich um das, was sich die Spielerinnen am meisten gewünscht haben. Gerade in Australien wird dabei nichts erzwungen, schon gar nicht mit missionarischem Eifer. Sport ist hier meist einfach Unterhaltung. Nach dem Abpfiff gehen alle wieder, am besten vergnügt, nach Hause. Die Fans nehmen sich nicht wichtiger als sie sind. Und wer nicht hinschaut, wird auch nicht schrägt angeguckt.
Manchmal muss man etwas länger in den Metropolen des Landes suchen, um überhaupt einen Fernseher zu finden, auf dem die WM läuft. Aber mitunter wird ein Stadion zum leuchtenden Hotspot. Wie am Sonntag das Sydney Football Stadium. Eigentlich ist diese Arena nach einem deutschen Versicherungskonzern benannt und beherbergt die Zentrale der Rugby League Australiens mitsamt zwei Teams der Weltstadt, die sich kernige Lokalderbys liefern. Der weltweit bekannte Schauspieler Russell Crowe ist der Besitzer der Sydney Rabbitohs. Deren Wohnzimmer hat beim 2:1 der Kolumbianerinnen gegen Deutschland den bislang stimmungsvollsten Höhepunkt ohne australische Beteiligung erlebt. Die Phonstärke von den Rängen für die frenetisch angefeuerten Südamerikanerinnen war beeindruckend.
»Ich weiß gar nicht, wo die ganzen kolumbianischen Fans alle hergekommen sind«, fragte sich Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg danach. Aber das war leicht erklärt. Australien, ein Land, das seine Einwanderung nach strikten Regeln steuert, hat die vergangenen Jahre ungefähr 35 000 Menschen aus Kolumbien eine Einreise erlaubt, die meisten davon Studenten. Viele sind geblieben. Davon leben allein 11 000 in Sydney – und der Lautstärke nach zu urteilen, strömten alle herbei. Ähnlich ist es bei den Spielen mit brasilianischer Beteiligung. Deren Diaspora in den riesigen Ballungsräumen Melbourne und Sydney ist noch deutlich größer. Deren Anhängerschaft erzeugt für die Frauen die gleiche leidenschaftliche Stimmung wie für die Männer. Es wird voller Pathos die Hymne gesungen, danach getrommelt, gepfiffen und gebuht. Ein Zufall, dass in dieser Umgebung gefühlt die Unterbrechungen zunehmen?
Noch hat sich auch die neunte Auflage einer WM der Frauen an vielen Stellen seinen familiären Charakter bewahrt, sind die Zugänge einfacher, weil vieles nicht so reglementiert ist. Die offizielle Fanzone am Tumbalong Park in Sydney ist ebenfalls nicht überdimensioniert. Zwar ist auch sie nach Vorgaben des Weltverbandes Fifa kommerzialisiert, aber viel flauschiger gestylt. Kleine Bereiche, nette Verkaufsstände, Platz für maximal 4000 Personen. Das Publikum ist jünger und weiblicher. Der Bereich schmiegt sich unauffällig in den Stadtteil Darling Habour, wo die Kommilitonen aus aller Welt oft mehr Zeit verbringen als in den Hörsälen.
Der Weltverband hätte am liebsten alles schneller noch viel größer bei den Frauen, um bessere Geschäfte zu machen. Aber gerade das Interesse sollte lieber langsam wachsen. Und aus Überzeugung. Wo es Besserung braucht, sind die Bedingungen. Die Spielergewerkschaft Fifpro hat vor der WM einen Report herausgegeben, der wie ein Alarmruf klang, aber weitgehend unbeachtet blieb. 362 Fußballerinnen aus sechs Konföderationen wurden befragt: Bei 70 Prozent wurde vor dem Turnier nicht einmal ein normales EKG erhoben, über die Hälfte fühlten sich medizinisch nicht richtig betreut und zwei Drittel hatten nach Verletzungen keinen Zugang zu therapeutischen Einrichtungen. Dieselbe Zahl musste sich unbezahlten Urlaub nehmen, um überhaupt in den Qualifikationsspiele antreten zu können. Fifpro-Präsident David Aganzo schlussfolgerte: »Wir müssen sicherstellen, dass der Rahmen des Spiels für die Frauen auf einem soliden Fundament steht und Gleichheit, Fairness für die Spielerinnen gefördert werden, egal wo sie antreten.« Zu groß sind noch die strukturellen Unterschiede. Sonst wird sich an der Übermacht der USA, Japan und der europäischen Topteams im Fußball der Frauen so schnell nichts ändern.
Was drehen könnte sich für Australien. Fast die Hälfte der im Sport aktiven Kinder entscheiden sich mittlerweile fürs Kicken, fast genauso viele Mädchen wie Jungs. Sie wollen sich beim Rugby oder Australian Football keine blauen Flecken mehr holen. Eigentlich müsste die Fifa ein großes Interesse daran haben, dass auch mehr asiatische und vor allem afrikanische Teams den Anschluss herstellen. Doch Präsident Gianni Infantino verkündete bloß, er sei ein glücklicher Mann, weil Hunderttausende zuschauen würden. Ihm scheint das weltumspannende Interesse an den Fernsehgeräten am wichtigsten, weil das auch das meiste Geld bringt. Natürlich freut sich der Weltverband auch über 1,7 Millionen verkaufte Eintrittskarten. Das gesetzte Ziel von 1,5 Millionen Tickets ist bereits übertroffen.
Am Dienstag wurde Rebecca Sheely aus dem US-Bundesstaat Colorado in Auckland beim torlosen Gruppenspiel zwischen Portugal und den USA als einmillionster Fan mit Geschenken bedacht. Sie und ihre Tochter Janelle verfolgen bereits ihre dritte Weltmeisterschaft. Dass ihre Lieblinge beinahe ausgeschieden wären, könnte damit zu tun haben, dass der Rekordweltmeister in Neuseeland antritt. Ein Land, das mit Fußball einfach nicht mehr warm wird. Die Fifa verschenkte zwar abertausende Eintrittskarten, aber die Dominanz von Rugby ist zu groß, das Wetter im Winter zu schlecht. Das löste nicht nur beim spanischen Team die Grundstimmung aus, einfach nur noch weg zu wollen. Besser wäre es eigentlich, die ganze K.o.-Runde ab dem Wochenende nur an der australischen Ostküste auszuspielen. Melbourne, Brisbane und Sydney mit zwei Stadien hätten dafür genügt. Aber dafür ist es jetzt zu spät.
Hatte nicht jede WM der Frauen auch ihre Schattenseiten? War es bei dem Turnier 2011 in Deutschland vor allem das frühe Ausscheiden des Gastgebers, was alle Anstrengungen konterkarierte, dem Fußball der Frauen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, drückte bei der WM 2015 in Kanada der Kunstrasen auf die Stimmung. Ein für viele Spielerinnen unwürdiger Untergrund. Bei der WM 2019 in Frankreich kam vieles auf den richtigen Weg, doch bei den Finalspielen in Lyon waren die »Equal Pay«-Rufe nicht mehr zu überhören.
Zum Sprachrohr wurde Megan Rapinoe. Die Aktivistin am linken Flügel des US-Teams, trug ihre Forderungen nach Gleichbehandlung und Gleichberechtigung lautstark vor. Sie stieg zum Gesicht einer selbstbewussten Generation auf, die nicht mehr gewillt war, im Fußball-Schatten der Männer zu stehen. Gianni Infantino hatte damals noch in Lyon schnell eine Ausweitung der WM auf 32 Teilnehmer angekündigt, wie bei den Männern in Katar. Erst kürzlich beim Kongress in Kigali versprach der Fifa-Präsident für die nächste WM der Frauen 2027 auch dieselbe Bezahlung im Vergleich mit den Männern.
Bei den Fifa-Prämien gab es bereits jetzt eine Verdreifachung auf jetzt 110 Millionen Dollar. Kritiker werden sagen, dass immer noch bloß ein Viertel von den in Katar an die zum größten Teil ohnehin schon stinkreichen Männer an Preisgeld ausgeschüttet worden ist, aber auf der Gegenseite erlöst der Weltverband auch (noch) nicht annähernd solche Summen mit den Frauen. Dass Sponsoren und Fernsehanstalten bei der WM 2027 erneut viel mehr berappen sollen, dürfte feststehen. Noch einmal gehen die Rechte bestimmt nicht für zehn Millionen Euro an ARD und ZDF. Die Fifa bekommt natürlich mit, wie die deutschen Sender für vergleichsweise wenig Geld sehr spät überraschende Traumquoten eingekauft haben.
Wo das nächste Turnier ausgetragen wird, entscheidet am 17. Mai 2024 der Fifa-Kongress in Bangkok. Das Dreiländereck mit Deutschland, Niederlande und Belgien hofft auf den Zuschlag, aber auch die Doppelbewerbung aus den USA und Mexiko. Dazu noch Brasilien und vor allem Südafrika, das vielen als Favorit gilt, gerade bei Infantino und seiner Gefolgschaft. Der gerissene Präsident wird vor allem die Forderung nach angemessener Wertschätzung der Rechteverwerter vortragen, wenn er vor dem Finale im Australia Stadion von Sydney sein Resümee zieht. Am Endspieltag, dem 20. August, wird Cody Smith auf jeden Fall vor dem Fernseher sitzen. Auch wenn die »Matildas« nicht mitspielen sollten, verspricht er: »Ich werde mir das anschauen.« Of course!
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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