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Behinderung von Belegschaften: Straffreiheit für Arbeitgeber
Angriffe auf organisierte Beschäftigte werden selten angezeigt, Anklage wurde zuletzt nie erhoben
Ein einziger Strafantrag wegen des Verstoßes gegen Paragraf 119 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sei 2023 bisher in Berlin eingegangen. Das schildert Oberstaatsanwalt Thomas Gritscher im Gespräch mit »nd«: »Es geht dabei um eine Tochtergesellschaft einer Online-Bank, die ein Betriebsratsmitglied unter Druck gesetzt beziehungsweise in seiner Arbeit gestört haben soll.«
Paragraf 119 BetrVG stellt die Einschränkung der Betriebsratsarbeit und die Störung von Betriebsratswahlen unter Strafe: mit bis zu einem Jahr Haft. In Berlin seien zwischen 2012 und 2022 diesbezüglich 38 Strafanzeigen eingegangen, sagt Gritscher. Seiner Kenntnis nach habe die Staatsanwaltschaft in keinem der Fälle Anklage erhoben.
Das Problem der überschaubaren Strafverfolgung ist der Berliner Politik bekannt. Im Koalitionsvertrag der Regierung heißt es, dass man »den Aufbau einer spezialisierten Arbeitseinheit in der Berliner Staatsanwaltschaft gegen betriebsverfassungsrechtliche Straftaten fortführen« wolle.
Die zuständige Senatsjustizverwaltung antwortet »nd« zum Fortschritt dieses Vorhabens, dass »mit der Abteilung 243 eine spezialisierte Abteilung« bestehe, die »exklusiv Verstöße gegen Strafbestimmungen des Betriebsverfassungsrechts« bearbeite und über besonders geschulte Staatsanwält*innen verfüge.
Oberstaatsanwalt Gritscher ist seit 2016 Leiter ebendieser Abteilung 243. Ihm zufolge habe es seitdem weder »zusätzliche Ressourcen, Schulungen oder Personal« gegeben. Aber, betont Gritscher: Die aktuellen Fallzahlen zu Paragraf 119 BetrVG würden einen solchen besonderen Aufwand auch nicht rechtfertigen: »Das BetrVG ist wirklich nur ein Randaspekt meiner Arbeit.« Seiner Abteilung, die aus sechs Staatsanwält*innen bestehe, seien allein in diesem Jahr annähernd 1000 Anzeigen aus anderen Bereichen der Wirtschaftskriminalität zugeleitet worden.
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Und noch etwas will Gritscher hervorgehoben wissen: dass es sich hierbei um ein »absolutes Antragsdelikt« handelt. Erst auf eine Anzeige hin darf die Staatsanwaltschaft tätig werden. Dabei ist einzelnen Beschäftigten dieser Gang verwehrt. Stattdessen muss die Anzeige vom Betriebsrat, dessen Wahlvorstand, einer Gewerkschaft oder dem Unternehmen selbst gestellt werden.
Inwieweit sich die Realität an den Arbeitsplätzen von der Zahl der bei den Staatsanwaltschaften eingehenden Anzeigen unterscheidet, sprich: wie viele der erfolgten Rechtsverstöße überhaupt angezeigt werden, lässt sich schwer sagen. Das Ausmaß an Behinderung von aktiven Beschäftigten ist kaum erforscht. Zahlen gibt es nur vereinzelt und dann von arbeitnehmernaher Seite. Diese deuten aber darauf hin, dass die tatsächliche Zahl der Verstöße weit höher liegt. Bei einer 2021 erfolgten Befragung der Hans-Böckler-Stiftung von knapp 3000 Betriebsratsmitgliedern gab nur die Hälfte der Befragten an, nie in ihrer Arbeit behindert zu werden.
Gewerkschaften kritisieren wegen dieser Diskrepanz eine geringe Wirksamkeit des Strafrechts. So äußert Katja Karger, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Berlin-Brandenburg, gegenüber »nd«, die Beweislast aufseiten der Betroffenen stelle eine meist »unüberwindbare Hürde« dar. Zudem scheuten viele Beschäftigte eine Anzeige aus Angst vor Konsequenzen. Und nicht zuletzt habe sich die Erkenntnis verbreitet, dass »solche Verfahren nichts bringen«. »Wirksame Sanktionen gegen Arbeitgeber« gebe es »fast nie«, so Karger.
Dass die Hürden für ein Strafverfahren zu hoch sind, sieht auch Wolfgang Däubler, Rechtswissenschaftler für Arbeitsrecht an der Universität Bremen, so. Ebenfalls auf Anfrage von »nd« führt er aus, dass die Staatsanwaltschaft selbst ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bejahen müsse. Zudem sei der Nachweis zu erbringen, dass der Arbeitgeber »die Rechte des Betriebsrats bewusst verletzt« habe.
Däublers Ansicht nach sollte nach dem Eingang von Hinweisen bei Polizei und Staatsanwaltschaft automatisch ein Strafverfahren eingeleitet werden. Dieser Hinweis könne auch anonym erfolgen. Was Däubler anspricht, ist die Einstufung von Verstößen gegen das BetrVG als sogenannte Offizialdelikte. Demnach müssten die zuständigen Staatsanwaltschaften bei etwaiger Kenntnis von mutmaßlichen Verstößen selbst Ermittlungen einleiten. Für eine solche Reform setzt sich auch das Land Berlin ein. Die Zuständigkeit liegt aber beim Bundesarbeitsministerium. Ein entsprechender Gesetzesentwurf sei in Arbeit, teilte eine Sprecherin »nd« mit. »Die konkrete zeitliche und inhaltliche Ausgestaltung bleibe abzuwarten.«
Eine Korrektur des BetrVG wäre jedoch nur einseitig. In der sogenannten dualistischen Interessenvertretung sind die Betriebsräte nur einer von zwei Teilen. Daneben sind Gewerkschaften zentraler Baustein der deutschen Sozial- und Wirtschaftsordnung. Ihnen kommen exklusive Rechte zu. Nur sie können beispielsweise streiken und Tarifverträge samt Lohnerhöhungen erstreiten. Die Freiheit, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen und entsprechend zu handeln, ist ein Grundrecht gemäß Artikel 9 Grundgesetz. Allein, ein Verstoß dagegen ist kein Straftatbestand. Es gibt keine Strafnorm, die eine Sanktion ermöglichen würde. Das bestätigen sowohl Gritscher als auch Däubler. »Es wäre wünschenswert, die gewerkschaftliche Arbeit genauso wie die des Betriebsrats zu schützen«, meint Däubler.
In einer weiteren Studie für die Hans-Böckler-Stiftung hat der Arbeitssoziologe Oliver Thünken von der Technischen Universität Chemnitz 2021 untersucht, welche Antworten Beschäftigte auf Angriffe gegen Betriebsräte (Paragraf 119 BetrVG) und sogenanntes Union Busting (Artikel 9 Grundgesetz) finden. Dabei habe er beobachtet, dass der Rechtsweg nur als eine Möglichkeit betrachtet wird. Entscheidend sei neben Expertise von Anwält*innen und Gewerkschaften, sich im Betrieb zusammenzuschließen und Rückhalt zu organisieren. Denn, so Thünken: »Wenn Konflikte als Individualkonflikte zwischen einzelnen Beschäftigten und Geschäftsführung gedeutet werden, geht der zentrale Aspekt des Angriffs auf das allgemeine Mitbestimmungsrecht verloren.«
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