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Sibiriens eisiges Genadele
»Abgesang« von Peter Gosse: Miniaturen über das Vergehen und Weitergehen
Von einem Gestorbenen ist die Rede, entlassen »in die Unkenntlichkeit der Asche«. Es ist ein Schriftsteller, von Lebens Gnaden kann er von sich sagen: »Mein Schriftenwerk, das mich kenntlich machen kann, ist glücklich beendet.« Nun einfach nur noch die Bitte an die Bleibenden: »Kostet die ungeheuerliche Einmaligkeit aus, die das Leben ist!«
Es ist der Dichter selbst, der sich da verabschiedet. Eine heitere Vorfühlung. Peter Gosse steht am Grab von Peter Gosse: »Mein Adieu«. So heißt einer der Nachrufe im Band. Diese sind kleine Gedächtnis-Feste, etwa für Rainer Kirsch, Helmut Richter, erschütternd: für den eigenen, gestorbenen Sohn. Was folgt so einem Schlag? »Gehaltenheit, man versäumt nichts mehr«; plötzlich ist das Dasein, wie es in einem anderen Text heißt, ein »Fehlgefüge«. Die Nachrufe sind keine Rufe, eher Nachträge, Beifügungen zu dem, was trägt, Fortführung von Gesprächen.
Jens-Fietje Dwars gab diesen »Abgesang« von Peter Gosse heraus, »Mitteilungen vom Ableben & Aufleben«. Mitteilung heißt: Teile mit anderen und beherrsche dich nicht; teile mit anderen, was dir selber am meisten fehlt: Gewissheit, Überblick, Energie ohne Ende. Besagten Nachrufen zugesellt: Marginalien über Orte (Thomaskirche Leipzig, Dublin, Cordoba, Sternenstädtchen bei Moskau), Porträts (Jewtuschenko, Gille, Stelzmann, Gorbatschow) – an die 50 Kürzestessays auf nicht mal 100 Seiten. Details, Stimmungen, »Seinsgunst, Seinslust«, wie Friedrich Dieckmann im ebenso kompakten Nach(sinnens)wort schreibt. Gosse sei kein »Mann des Harfenhauchs«, eher einer, der die Trommel rührt. Gegen das Blech, das so geredet wird; gegen die Standpauke, die vom tumben Aktivismus ausgeht.
Der Dichter, der auf die 85 zugeht, ist ein Meister darin, Worte nicht zu setzen, sondern sie werden zu lassen. Seine Sprache wölbt sich aus, ist neuwortfrech, sie stelzt auch, sie ist störrisch eigen, widerhakengierig, sie bleibt stets mehr als Vokabular aus dem Berichterstattungselend. In diesem Buch wird das Innere eines französischen Doms zum »Kathredralschiffgeschwader«; ein syrisches Dorf wird skizziert: »noch überschmiegte das Netz der Häuserchen die Natur«. Beim Schwimmen im sibirischen Ob zu spüren: »das eisige Genadele«. Es kommen in den Texten »arschreite Breitendicke« und »Wollens-Ernst« vor, und unsere Gesellschaft peinigen »kapitalbedingte Zergrätschungen«.
Das besagte hochgestimmte Künstliche prägte schon den selbstbewussten Start von Gosses Dichterdasein: Er trat einst als Diplomingenieur für Hochfrequenztechnik in die Dichtung ein. Forsch setzte der UdSSR-Student, der dann in einem DDR-Großrechenzentrum arbeitete, »Antiherbstzeitloses« (1968) gegen »Herbstiges und Zeitloses und Blümeliges«. Die Wissenschaft selbst, die kühle Materie der Technik wurden plötzlich Sprache und Stoff. Beide unter Strom.
Immer spricht aus dem Dichter der Forscher, dem Wissenschaft eine ästhetische Größe ist. Der Sinnverführte, der Strukturbefeuerte. Herrlich schmerzhaft ablesbar: der Kampf im Herzen – zwischen dem Rationalisten aus Erkenntnis und dem Irrationalisten aus poetischer Erfahrung. Da ist einer ein Tugendalles und Taugenichts; er überwindet sich, er windet sich, raus aus den Kollektiven, rein in die Menschheit. Russischen Musen und Meisterlichen der Poesie innig verbunden – Achmadulina, Achmatowa (»Dichtung beatmet sich von Mund zu Mund«).
Einmal ist Gosse begeistert von Hunderten von Leipzigern, die keine Karten zu ergattern vermochten, als Yehudi Menuhin in der alten Kongresshalle auftrat, und die nun von draußen lauschten und Begeisterungs-Chöre intonierten. 70er Jahre. Da geschah Ähnliches wie bei Jessenin-Versen, die 1957 zu den Tausenden hinaus und hinunter auf den Moskauer Majakowski-Platz intoniert worden waren, Student Gosse war Zeuge, seltenes Ereignis: »Bevölkerung war Volk.«
Essay, das ist ein gefährliches Genre. Er verführt den Autor, jenes ihn augenblicklich Bedrängende hinauf ins Erhebliche zu deuten. Gosse bleibt oben unten. Er ist auf Gehwegen und schwebt auch über ihnen. Eine Mischung aus unsentimentalem Wirklichkeitssinn und frechem Spiel der Fantasie, heiter wider alles ideologische »Vernunftgezücht« (Botho Strauß). Die Texte kreisen ums Unfassbare, das hinter den festen Wänden der normierten Existenz auf die Klopfzeichen wartet, die wir geben. Oft versehentlich, ahnungslos, ohne bewusste Sinnanstrengung – indem wir uns hingeben, indem wir uns hergeben, indem wir uns ausgeben, indem wir vergeben, indem wir uns viel vergeben.
Gosses Wort stammt nicht aus den Geläufigkeiten. Es ist Austausch. Der Weitschwung. Das Tüfteltimbre. Das Antigeschmeidige. Viel Trauer, aber in der Gebeugtheit nach wie vor Sprungkraft, also sehr viel Lebenswissen. Der Autor, versiert in rhetorischen Kopplungstechniken, ist ein nervöser Aufmerksamer, der mit anhaltender Kraft Zwiesprache mit dem Fernen und Früheren hält. »Was tun in einer Welt-Krise? Ich lasse hochklassige Kunst auf mein Gemüt hernieder.« Zum Wunderort seiner Poesie erhebt er jenen Punkt, an dem die Widersprüche an einen Stillstand kommen, der sie nicht aufhebt, sondern gleichberechtigt leuchten lässt.
Peter Gosse: Abgesang. Mitteilungen vom Ableben & Aufleben, hrsg. von Jens-Fietje Dwars. Mit einem Holzschnitt von Karl-Georg Hirsch. Quartus-Verlag, 88 S., br., 15 €.
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