Amazonas: »Abholzung am besten gestern auf null setzen«

Amazonas-Forscher Carlos A. Nobre über Entwaldung, Degradierung und mögliche Wiederherstellung

  • Interview: Norbert Suchanek
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Amazonas-Länder wollen bei ihrem Gipfel in Belém über die Rettung des Regenwaldes beraten. Wie dramatisch ist die Lage?

Im gesamten Amazonasgebiet, das ursprünglich rund 6,5 Millionen Quadratkilometer Wald umfasste, sind bereits etwas mehr als 1 Million Quadratkilometer abgeholzt, etwa 18 Prozent. Weitere 17 Prozent sind in unterschiedlichen Stadien degradierte Flächen. Die meisten dieser Entwaldeten und beschädigten Gebiete befinden sich im südlichen Amazonasgebiet, in den brasilianischen Bundesstaaten Pará, Mato Grosso, Rondônia, Acre und Amazonas sowie im südöstlichen Bolivien. Ein zweiter Entwaldungsbogen erstreckt sich entlang der Anden zwischen 400 und 1300 Höhenmetern in Peru, Ecuador und Kolumbien.

Wie weit oder wie nah sind wir am »Point of no Return« des Amazonas-Ökosystems? Droht Amazonien zu kollabieren?

Tatsächlich ist Amazonien nicht mehr weit von dem Punkt entfernt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wir müssen die Abholzung, die Degradierung und die Waldbrände sofort und am besten gestern auf null setzen. Wir brauchen ein Moratorium für diese Art von Landnutzungsänderung besonders im südlichen Amazonasgebiet, weil dieses kurz vor dem Zusammenbruch steht. Die Trockenzeit ist in dieser zwei Millionen Quadratkilometer großen Region bereits vier bis fünf Wochen länger als in den vergangenen 40 Jahren. Und sie ist 2,5 Grad wärmer und 25 Prozent trockener. Diese Region ist heute eine Emissionsquelle – sie gibt mehr Kohlenstoff frei, als sie der Atmosphäre entzieht. Wenn wir also mit der globalen Erwärmung und der Zerstörung der Wälder fortfahren, werden wir diesen Punkt ohne Rückkehr in höchstens 20 bis 30 Jahren überschreiten. Deshalb ist es fundamental, sofort mit der Wiederherstellung eines großen Teils dieser zwei Millionen abgeholzten und degradierten Quadratkilometer zu beginnen.

Laut seinen Aussagen und seines im Juni vorgelegten Amazonas-Schutzprogramms will Brasiliens Präsident Lula da Silva die »illegale« Abholzung in Amazonien bis 2030 beenden. Reicht das aus, um den Kollaps zu verhindern?

Interview

Carlos A. Nobre gehört zu den renommiertesten Amazonas-Forschern. Der Erdsystemwissenschaftler am Institut für fortgeschrittene Studien der Universität von São Paulo untersucht insbesondere die Wechselwirkungen von Biosphäre und Atmosphäre sowie die Folgen der Abholzung für das Klima. Nobre ist einer der beiden Vorsitzenden des aus über 240 Forschern bestehenden internationalen Wissenschaftspanels für den Amazonas.

Brasilien und fast alle Amazonas-Länder haben 2021 während des Klimagipfels COP 26 in Glasgow ein Abkommen unterzeichnet, dem sich bis heute 134 Staaten angeschlossen haben und das die Abholzung aller Wälder weltweit bis 2030 auf null bringen soll. Das muss unser wichtigstes Ziel sein. Obwohl der brasilianische Rechtsrahmen die Abholzung von 20 Prozent und mancherorts bis zu 50 Prozent im Amazonasgebiet zulässt, dürfen wir zum Schutz des Gebiets nicht mehr zwischen legal und illegal unterscheiden. Die Regierungen einiger Amazonas-Länder wie zum Beispiel Kolumbien arbeiten daran, jegliche Entwaldung zu stoppen, und dies sollte auch die Politik für Brasilien sein. Um den Planeten zu retten, den Klimanotstand zu bekämpfen und die biologische Vielfalt zu schützen, darf es eine erlaubte Abholzung nicht mehr geben.

Brasiliens Schutzprogramm erlaubt auch die Ausweitung des »nachhaltigen« Holzeinschlags in den Staatswäldern auf bis zu fünf Millionen Hektar. Macht dies Sinn?

​​​​Wie ich schon sagte: Wir haben in Amazonien fast die gleiche Fläche abgeholzt wie degradiert. Leider führen die praktizierte Holzausbeutung wie auch der »selektive« Einschlag zu einer enormen Degradierung der Wälder. Dies ist kein Weg für Amazonien. Um den Amazonas zu retten, ist es notwendig, sowohl die Entwaldung als auch die Degradierung der Wälder zu beenden und gleichzeitig große Restaurierungsprojekte zu beginnen. Auf der COP 27 im vergangenen Jahr haben wir, das Wissenschaftspanel für den Amazonas, ein Projekt zur Wiederherstellung großer Waldgebiete vor allem in den Regionen der beiden Abholzungsbögen ins Leben gerufen. Wir nennen es »Arcos da Restauração Florestal« (Bögen der Waldwiederherstellung).

Ein Großteil des brasilianischen Amazonas gilt als Bundes- oder Staatsland »ohne Bestimmung«. Was sollte die Regierung mit diesen Flächen tun?

Die »terras devolutas« in Amazonien haben eine enorme Fläche von 560 000 Quadratkilometern. Es ist sehr wichtig, dass die Wälder in diesen Gebieten erhalten bleiben und dass auf bereits gerodeten öffentlichen Flächen eine Waldrestaurierung im großen Maßstab erfolgt. Insgesamt mehr als 20 Millionen Hektar Regenwald sind in Naturschutzgebieten, indigenen Reservaten und den »terras devolutas« schon abgeholzt. Daher ist ein Mega-Waldwiederherstellungsprojekt, wie wir es auf der COP 27 gestartet haben und das mindestens 50 Millionen Hektar umfasst, sehr wichtig. All diese Gebiete von Bund und Ländern, die noch ohne Bestimmung sind, sollten als indigene Territorien demarkiert und zur Schaffung einer großen Anzahl von Naturschutzgebieten genutzt werden. Und ein Teil davon könnte als hochproduktives Agroforstsystem für eine neue Bioökonomie des »stehenden Waldes« dienen.

Was wünschen Sie sich als Ergebnis des Amazonas-Staaten-Gipfels in Belém?

Natürlich haben wir große Erwartungen an die Vereinbarung des Gipfels in Belém mit allen Präsidenten der Amazonas-Länder, möglicherweise auch mit dem Präsidenten Frankreichs, Emmanuel Macron. Es wäre wünschenswert, wenn die acht Amazonas-Staaten und Französisch-Guayana eine Einigung erzielen und ähnlich der EU eine Union der Amazonas-Länder bilden würden, um gemeinsam Entwaldung, Walddegradierung und die in der Region explodierende Umweltkriminalität wie Landraub, illegalen Bergbau, Drogenhandel und Raubfischerei zu bekämpfen.

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