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Leopoldplatz in Berlin: Wo Elend verwaltet wird
Anwohnende, Sozialarbeitende und der Bezirk Wedding berichten über ein zunehmend aggressives Klima auf dem »Leo«
Verfolgt man die aktuelle Berichterstattung, dann brennt der Berliner Beton trotz kühlen Sommerlochs. Nach den Freibädern und dem Görlitzer Park ist nun der Leopoldplatz dran. Im Herzen von Wedding sehen Anwohnende und Sozialarbeiter*innen dringenden Handlungsbedarf. Denn dort, wo Nachbar*innen schwatzen, Obdachlose übernachten, Kinder spielen und Abhängige konsumieren, sei die Stimmung aggressiver geworden. Nun soll ein neues Sicherheitskonzept her: Was nach der nächsten Verdrängungsgeschichte klingt, soll differenzierter angegangen werden, um einen friedlicheren »Platz für alle« zu schaffen.
Sven Dittrich lebt seit 16 Jahren am Leopoldplatz und betreibt in der angrenzenden Nazarethkirchstraße ein Wohnungsauflösungsgeschäft. Hier kommt rein, wer lange zum Kiez gehört oder gerade gestrandet ist. Für ein paar Euro findet man hier Patti Smith auf Vinyl oder bunte Sitzkissen aus Omas Datscha, und wer nichts kaufen will, kommt einfach nur zum Schnacken in Dittrichs Laden. Aktuell ist das Gesprächsthema Nummer eins die Entwicklung auf dem Platz. »Der letzte Sommer war zu viel. Wir fühlten uns ohnmächtig und unsicher, und der Bezirk hat gepennt. Also mussten wir das Problem selbst in die Hand nehmen und haben die Bürgerinitiative WirAmLeo gegründet«, berichtet Dittrich gegenüber »nd«.
Das Problem ist in den Augen der Bürgerinitiative ein neues Ausmaß an Gewalt, ein Anstieg von Drogenkonsum und ein damit verbundenes »Klima der Unsicherheit«. Eine Anwohnerin, die Svens Laden betritt, spricht von einem »Flächenbrand, der von der U8 ausgehend nun am Leopoldplatz angekommen« sei. Sie sieht in dem Wohngebiet gegensätzliche Nutzungsinteressen, etwa wenn Drogenabhängige vermehrt an einem Platz direkt neben dem Kinderspielplatz konsumieren. Momentan sind die 1,7 Kilometer entfernte Mühlenstube des Suchthilfe-Trägers Vista und ein mobiler Konsumraum von Fixpunkt e. V. direkt auf dem Leopoldplatz die einzigen offiziellen Orte zum Konsumieren. Letzterer wird vom Fixpunkt zurzeit nur wochentags zwischen 10 und 13.30 Uhr betrieben, da der Verein nur über begrenzte Mittel verfügt.
Auch Flavious klagt über die neuen Zustände auf dem Leopoldplatz. Er steht mit seinem Imbiss DJ Bombay seit drei Jahren vor der Nazarethkirche. Er berichtet gegenüber »nd« von mehreren Einbrüchen in seinem Verkaufsraum allein in diesem Jahr. »Hier wurden Sachen zerschlagen und Getränke geklaut. Ich musste mein Angebot umstellen und die Süßigkeiten aus dem Sortiment nehmen, weil keine Kinder mehr kommen«, erzählt er. »Der Platz ist nicht mehr friedlich, er war es aber mal.«
Wedding wird schnell als Problembezirk abgetan. Doch die Anwohnenden und die ansässigen Sozialarbeiter*innen berichten von neuen Problemen auf dem Platz. Besonders der vermehrte Konsum von Crack bereitet ihnen Sorgen. Crack ist eine Zubereitungsart von Kokain, die eine starke Wirkung hat und zu hohem Suchtdruck führen kann. »Sowohl die Substanzwirkung als auch der Suchtdruck führen bei intensivem Konsum zu hektischem und herausforderndem Verhalten und Angst, die in Aggression umschlagen kann, wenn sich jemand angegriffen fühlt«, erklärt Astrid Leicht von Fixpunkt. »Es ist aber nicht so, wie leider häufig undifferenziert behauptet wird, dass auf dem Leo alle Crack-Konsumierenden Gewalttäter wären oder zur organisierten Kriminalität gehören.« Im Gegenteil: Es seien einzelne Personen oder Gruppierungen, die sich sozialschädlich verhielten.
»Ich kann den Frust und die Sorge der Anwohnenden verstehen, aber die Menschen, die auf dem Leo konsumieren oder übernachten, sind auch Anwohner. Auch diese Menschen fühlen sich in ihrer Situation unsicher und unwohl«, sagt ein Sprecher der Obdachlosenhilfe. Dem steigenden Bedarf stünden begrenzte Mittel gegenüber. »Eine nachhaltige Politik wäre die Enteignung von Leerstand. Stattdessen wird versucht, Orte wie die Habersaathstraße zu räumen. Es sind aber auch schon kleinere Dinge wie kostenfreie Sanitäranlagen oder der Ausbau von Konsumräumen, die einen Unterschied im Alltag der Menschen machen«, erzählt er gegenüber »nd«.
»Ich mag das Wort ›Szene‹ nicht, weil es so klingt, als gehe es um einen kleinen homogenen Teil der Gesellschaft. Aber was sich hier abspielt, ist die Folge von Flucht, Kriegstraumata, Vertreibung und Armut«, erklärt Sven Dittrich von der Initiative WirAmLeo. »Wir wollen, dass ein adäquater Masterplan erarbeitet wird, der über die bisherige Elendsverwaltung hinausgeht.«
Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger (Grüne) plant, sich des Anliegens der Nachbarschaft und Aktiven am Leo anzunehmen. Ihre Partei hatte 2020 in einer Pressemitteilung kühn einen »Platz für alle« am Leo ausgerufen – mit einer Einteilung in Zonen für verschiedene Nutzer*innengruppen. Das ging offenbar nicht auf. Tatsächliche politische Bemühungen seien laut der Bürgerinitiative erst auf deren eigenen Druck hin zustande gekommen: So organisierte der Bezirk vor einem Monat eine Informationsveranstaltung über das mobile Konsummobil auf dem Platz, das von Fixpunkt betreut wird. »Da ist aber statt politischer Lösungen vor allem der Frust der Anwohner laut geworden«, sagt Dittrich.
Die Pressestelle von Bezirksbürgermeisterin Remlinger berichtet gegenüber »nd« von den aktuellen Plänen für einen Sichtschutz, der zwischen Spielplatz und Aufenthaltsbereich der Drogenszene aufgestellt werden soll. Dittrich betont, dass auch dies die Idee der Bürgerinitiative gewesen sei und dass auf dem Banner unter anderem in Farsi, Arabisch und Ukrainisch »Zitate rund um Kinder« Platz haben sollen. Fixpunkt begrüßt den geplanten Sichtschutz.
Des Weiteren plant der Bezirk laut Aussagen der Pressestelle, »die Toilettensituation zu überarbeiten«, sowie mit der Polizei eine »Anpassung der Strategie«, die »nicht einfach nur auf Verdrängung setzen« dürfe. Angestrebt werde ein »kooperativer Ansatz zwischen Senat und Bezirk, Polizei und Sozialarbeit, in dessen Zentrum Prävention und Aufklärung, Integration und Vertrauen stehen müssen«.
Was genau mit einer »Anpassung der Strategie« hinsichtlich polizeilicher Maßnahmen gemeint ist, ist unklar. Fixpunkt findet »eine effektive Polizeiarbeit, die zielgerichtet organisierte Kriminalität bekämpft und Gewalttäter strafverfolgt«, sinnvoll und spricht sich »gegen bloße massive Präsenz, anlasslose Kontrollen oder gar die Erteilung von Platzverweisen« aus, die »die Belastung in den umliegenden Wohngebieten, in anderen Grünanlagen und an anderen öffentlichen Orten erhöhen würden«.
Die Bürgerinitiative sieht in polizeilichen Maßnahmen erst mal »grundsätzlich mehr Sicherheit«, betont aber, dass diese auch nachhaltig die Situation für Konsumierende und Anwohner verbessern müssten. Der Sprecher der Obdachlosenhilfe kritisiert polizeiliche Maßnahmen, die repressiv wirken. »Die Polizei sorgt nicht für mehr Sicherheit, sondern für mehr Abschiebung und Inhaftierung«, mahnt er und verweist dabei auf das größtenteils migrantisch geprägte Publikum auf dem Leo.
Zuletzt hatte Kai Wegner (CDU) wegen der Vergewaltigungen im Görlitzer Park einen Sicherheitsgipfel für Anfang September angekündigt. Stefanie Remlinger und Clara Hermann (Grüne) werden sich für den Bezirk Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg beteiligen. Des Weiteren werden Polizei, Feuerwehr und Verfassungsschutz zur Frage der Sicherheit mitdiskutieren.
Sicher leben und arbeiten, das heißt: die Kinder auf dem Spielplatz sorglos tollen lassen und ein Käffchen mit der Freundin trinken. Das heißt auch, den Laden öffnen zu können ohne Angst vor dem finanziellen Ruin durch potenzielle Zerstörungen. Zu einem sicheren Leben gehört aber in erster Linie ein Dach über dem Kopf, kein zerbombtes Wohnzimmer – und keine Zwangsräumung. »Seien wir doch mal ehrlich: Die Menschen kommen hierher, um schrittweise zu sterben«, seufzt Dittrich. »Das will niemand selbst erleben oder sehen. Aktuell ist das ein Platz für niemanden.«
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