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Zwei Jahre Talibanherrschaft: Anpassung oder Flucht
Seit der Rückkehr der Islamisten boomt das Geschäft mit Reisedokumenten
»Wie viel kostet das Visum für Kasachstan?«, fragt ein junger Mann in einem Reisebüro im Westen Kabuls. Die Luft ist stickig. Ein Ventilator versucht, die Hitze des afghanischen Sommers wegzublasen. »Rechne mal mit 2500 Dollar«, antwortet Abdul Karim*, der am Schreibtisch sitzt. Ihm gehört das Reisebüro. Mittlerweile trägt er Vollbart. Neben seinem Computer steht eine kleine Flagge des Islamischen Emirats. So bezeichnen die Taliban, die seit zwei Jahren wieder Afghanistan regieren, ihren Staat.
Abdul Karim ist kein Anhänger der Extremisten. Er hat sich nur, so wie viele, seiner Umgebung angepasst. In Restaurants und Cafés herrscht eine striktere Geschlechtertrennung als zuvor. Musik wird kaum noch gespielt. Die Sorge, dass die Sittenwächter der Taliban plötzlich durch die Tür stürmen könnten, dominiert. Frauen treten verhüllter auf und verdecken ihr Gesicht, meist etwa mit schwarzen medizinischen Masken, obwohl die Corona-Pandemie auch am Hindukusch schon längst vorüber ist. Währenddessen imitieren Männer die Mode der Taliban: Längeres Haar und Bart, Belutschenkäppchen und eine Weste mit Tarnmuster.
Mittlerweile steht ein zweiter Kunde in Abdul Karims Büro. Auch er will ins Ausland. Mittlerweile gebe es weder Geld noch Arbeit. Während Abdul Karim für einen anderen Kunden ein Flugticket bucht, fragt er die beiden Männer nach ihren Tazkiras, ihren afghanischen Geburtsurkunden. Ihre Heimatprovinz spiele etwa für die kasachische Botschaft eine wichtige Rolle. Regionen, in denen mehrheitlich Paschtunen leben, würden mit den Taliban assoziiert werden und hätten es schwieriger. »Bedankt euch beim Emirat«, sagt Abdul Karim, der selbst Paschtune ist, grinsend.
Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht boomt das Geschäft mit Reisedokumenten. Viele Afghanen, die Geld haben, erwägen die Flucht ins Ausland. Meist beginnt diese mit offiziellen Papieren, die die Einreise in eines der Nachbarländer ermöglichen. Sowohl die Preise für Visa als auch für afghanische Reisepässe sind deshalb massiv gestiegen. Während Reiseagenten wie Abdul Karim ihre Kontakte in den Botschaften spielen lassen und sich dementsprechend entlohnen lassen, herrscht im Kabuler Passamt weiterhin Korruption. »Die Taliban präsentieren sich als Moralapostel, doch auch sie sind dem Geld verfallen«, klagt Mohammad Wasey. Wer einen Pass wolle, müsse einen dreistelligen Dollarbetrag hinblättern. »Für mich und meine Familie wären wir da locker bei insgesamt 10 000 US-Dollar. Niemand kann mir erzählen, dass die Taliban daran nicht mitverdienen würden«, sagt er.
Vor zwei Jahren zogen die Nato-Truppen unter der Führung des US-Militärs aus Afghanistan ab. Zeitgleich marschierten die Taliban in Kabul ein und übernahmen 20 Jahre nach ihrem Sturz abermals die Macht. Der repressive Taliban-Staat, der hauptsächlich von Mullahs mit Kalaschnikows dominiert wird, ist seitdem wieder Realität. Wer kein Talib war und einst nicht gegen die ausländischen Truppen oder ihre afghanischen Verbündeten – die mittlerweile aufgelöste republikanische Armee – gekämpft hat, ist nichts wert. »Ich war elf Jahre beim Hohen Gericht in Kabul angestellt. Dann kamen die Taliban und feuerten mich«, sagt Salim*, der mittlerweile Taxi fährt. Er erzählt, dass zahlreiche Beamte in den letzten zwei Jahren durch Taliban-Mitglieder ausgetauscht wurden. Lediglich jene Arbeiter, von denen man abhängig sei, würde man behalten. Und auch deren Anzahl nehme stetig ab. Die Taliban hätten dennoch keine Idee von Staatsführung. Ihr »Emirat« baue im Grunde genommen auf die Fundamente der gestürzten Republik auf. »Wozu der ganze Krieg, wenn am Ende alles gleich bleibt? Ich verstehe bis heute nicht, was das Ziel der Taliban gewesen ist«, beklagt sich Wasey.
»Der Krieg gegen Frauen scheint ihnen am wichtigsten zu sein«, resümiert Sahar*, eine Studentin aus Kabul. Seit Ende 2022 ist ihr und Millionen weiterer Afghaninnen der Universitätsbesuch untersagt. Studentinnen, die den Campus betreten wollen, werden von bewaffneten Taliban-Kämpfern aufgehalten. Seit der Rückkehr der Taliban ist auch Afghaninnen auch der Schulbesuch von der siebten bis zur zwölften Klasse untersagt. Hinzu kommen unterschiedliche Arbeitsverbote. Für Aufsehen und viel innerafghanische Kritik sorgte jüngst die Schließung von Schönheitssalons, die in den vergangenen Jahren nicht nur eine unabhängige Frauenwirtschaft förderten, sondern auch zu einem Safe Space für Afghaninnen geworden waren. »Wir sollen zu Hause bleiben – oder auf den Straßen betteln. Eine andere Vision gibt es für uns nicht seitens der Taliban«, sagt Sahar. In den vergangenen Monaten hat sie versucht, sich für ausländische Stipendien zu bewerben. Ihre einstige Visagistin arbeitet seit der erzwungenen Schließung in ihrer Wohnung und wird von ihren Kundinnen weiterhin aufgesucht. Doch auch sie erwägt mittlerweile eine Ausreise. Mehrere zehntausend Schönheitssalons soll es bis vor Kurzem in ganz Afghanistan gegeben haben. Wer den Anordnungen der Taliban nicht folgt, hat mit Strafen, Drohungen und Enteignungen zu rechnen.
Im August 2021 strömten Tausende von Afghanen zum Kabuler Flughafen, um das Land zu verlassen. Die dramatischen Szenen aus den damaligen Tagen sind vielen Menschen in Erinnerungen geblieben. Doch für die Rückkehr der Taliban müssen vor allem jene zahlen, die weiterhin im Land verweilen. Bis heute hat die internationale Staatengemeinschaft das Taliban-Regime nicht anerkannt. Ausländische Hilfsgelder, die das Überleben des Staates de facto ermöglichten, sind weggefallen. Das Land verfällt abermals in die Isolation, während die herrschenden Extremisten mit dem Aufbau ihrer Diktatur beschäftigt sind. »Wer bleibt, soll so werden wie sie. Alles andere wird nicht geduldet«, erklärt Ahmad Hakim*, der einst als Bauingenieur für das Städtebauministerium tätig gewesen ist. Noch kurz vor der Rückkehr der Taliban hatte er die Verantwortung für die Renovierung von Schulen und Kliniken. Dann brach alles zusammen. Seine korrupten Vorgesetzten flohen gemeinsam mit dem letzten Präsidenten der afghanischen Republik, Ashraf Ghani, während er zurückblieb und arbeitslos wurde. »Ich habe studiert und geschuftet. Für nichts!«, sagt er bedrückt.
Währenddessen versuchen die Taliban zu wirtschaften. Über Zölle erzielen sie täglich Millionenbeträge. Hinzu kommen erhöhte Steuerbeiträge, die vor allem kleinen Händlern das Rückgrat brechen. »Einst kamen sie in die Häuser und verlangten Essen. Mittlerweile nehmen sie die Bürger im großen Stil aus«, erzählt ein Gemüsehändler aus Kabul. Seinen Namen will er nicht nennen. Zu groß sei die Angst vor dem gefürchteten Taliban-Geheimdienst, der seine Augen und Ohren überall habe. Auch das Opiumgeschäft läuft weiter, obwohl die Taliban Drogenkonsum öffentlich meist als »unislamisch« abstempeln und offiziell verboten ließen. Vor rund einem Jahr wurde Bashir Noorzai, einer der bekanntesten Drogenbarone Afghanistans, aus US-Haft entlassen. Noorzai gehört weiterhin zu den wichtigsten Förderern der Taliban. Nach seiner Freilassung wurde er am Kabuler Flughafen von den Extremisten mit Ehren empfangen.
*Namen von der Redaktion geändert
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