Der Rest ist Poesie

Zum 80. Geburtstag von Wolf Wondratschek

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.
Wolf Wondratschek wird in den 70ern ein Autor für jene, die sonst keine Bücher lesen.
Wolf Wondratschek wird in den 70ern ein Autor für jene, die sonst keine Bücher lesen.

Wondratschek ging früh auf Distanz zum deutschen Literaturbetrieb und musste jahre-, jahrzehntelang mit seinen Ressentiments umgehen. Er hat sie aber auch herausgefordert mit seiner anachronistischen Machismo-Nummer, seinem forcierten Einzel- und Draufgängertum, seinem »Rimbaud-Fimmel«, wie er das selber mal genannt hat, der immer leicht übertriebenen Koketterie mit der Halbwelt, und dann natürlich dem ewigen Boxen. Er hat sie alle besucht, die wirklich großen Faustkämpfer, und anschließend bedichtet: den von ihm sehr geschätzten deutschen Mittelgewichtsweltmeister Eckhard Dagge, den Prinzen von Homburg, Rocky Graziano, selbstverständlich Max Schmeling und, keine Frage, Muhammad Ali, den er vor allem dafür würdigt, dass er nicht nur zuschlug, sondern – ganz untypisch für einen Weltklasseboxer – anfing zu reden: »die schnellen Beine, das gute Auge, der linke Jab, der Shuffle, / all das ist nur die eine Hälfte seiner Strategie, / die andere Hälfte ist Allah und der Rest Poesie«.

Und wenn er nicht an ihren Fäusten den Friedhofsgeruch erschnupperte, dann hing er gern auf St. Pauli herum, vor allem an den ausladenden Brüsten Domenicas – und sang ihr das Hohelied der heiligen Hure: »Ihr Gang wirkte wie die Fortbewegung einer tropischen Schlingpflanze. Sie war fett und saftig. Eine schlafende Schlange. Ein Wildwuchs, der Millionen Jahre überdauert hat. Stellt sie auf eine Muschel – und malt die Fresken neu.«

Er darf sich wirklich nicht beklagen, er hat die Rolle des virilen Poète maudit schon gelegentlich überreizt. Muss es aber auch nicht, denn zumindest seine vier Songbooks aus den 70ern, also die in einem grandiosen Coup am regulären Buchhandel vorbei, nämlich über den damaligen Underground-Versand 2001 vertriebenen »Gedichte/Lieder«, sind ja in den einschlägigen Kreisen wie Gesangsbücher aufgenommen worden. Um die 200 000 Exemplare hat er insgesamt verkauft von diesen Gedichtbänden – »Chuck’s Zimmer«, »Das leise Lachen am Ohr eines andern«, »Männer und Frauen« und »Letzte Gedichte« –, mit Lyrik also, die zwar durchaus populär sein wollte, die ihre Brinkmann-Lektion gelernt hatte, die aber nie nur Prosa in Zeilenbruch war, sondern allemal Poesie. Und die außerdem von der ordentlichen Literaturkritik absolut unbeachtet blieb, was unter anderem daran lag, dass 2001 keine Rezensionsexemplare verschickte. Warum auch, sie gingen ja so weg.

Es sind kanonische Texte darunter, etwa die lange Grabrede für Rolf Dieter Brinkmann »Er war too much für Euch, Leute«, die Liebeserklärung »Für meine Mutter« (»Aus Cezannes Äpfel hätte sie Apfelmus gemacht«), das kleine traurige Liebespoem »Endstation« (»Es gibt nichts, was einen Mann einsamer macht / als das leise Lachen am Ohr eines andern«) – und nicht zu vergessen das wunderbare, mittlerweile in kaum einer deutschen Gedichtanthologie fehlende »In den Autos«: »Wir waren ruhig, / hockten in den alten Autos, / drehten am Radio / und suchten die Straße / nach Süden // Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit, / um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern. // Einige saßen auf dem Berg, / um die Sonne auch nachts zu sehen« und so weiter.

Hier kommen Sehnsucht, Erfahrungshunger und Desillusionierung der Adoleszenz zur Sprache, die für das ganze Jahrzehnt stehen können. Wondratscheks Gedichte dieses Dezenniums sind auf eine anrührende Weise sentimental, welthaltig, haben das nötige Gespür für den poetischen Augenblick und die stilistische Potenz, diesen abzukonterfeien – und vor allem haben sie ihre Zeit wie Flüssigharz umschlossen. Die letzten Highs des 68er-Optimismus, die anschließende Depression, die Schwierigkeiten einer linken Positionierung, sofern man weiterhin Frontalopposition zum Staat sein, sich aber auch nicht mit dem Terror identifizieren wollte, schließlich der Deutsche Herbst und immer wieder die popkulturellen Sensationen jener Tage wie beispielsweise der »Thrilla of Manilla« – seine Gedichte schreiben dieses »elende, großzügige Jahrzehnt« mit.

Man konnte sich fragen, warum sie überhaupt im Selbstverlag erscheinen mussten, immerhin war er Anfang der 70er bereits ein durchaus angesehener Autor, der bei Hanser zwei avancierte, auch vom Großfeuilleton gut besprochene Kurzprosa-Bände mit zumindest großartigen Titeln publiziert hatte – »Früher begann der Tag mit einer Schußwunde« und »Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will«. Jetzt wäre eigentlich der große Roman fällig gewesen, aber den hat er nicht geschrieben, sondern diese leicht bekifften Gedichte. Um sich gar nicht erst eine Abfuhr einzuhandeln, hat er es auf eigene Faust bei 2001 probiert – und gewissermaßen über den zweiten Bildungsweg Literaturgeschichte geschrieben.

In meinem vor vielen Jahren antiquarisch erworbenen Exemplar von »Chuck’s Zimmer« hat einer seiner damaligen Fans zu mehreren Liedern Noten für eine entsprechende Vertonung notiert. Offenbar wollte er es Interzone, Esther Ofarim etc. gleichtun, die Texte von ihm in Songs überführt haben. Kann man sich als Dichter eigentlich noch mehr wünschen, als dass bei irgendeiner Konfirmandenfreizeit die eigenen Lieder zur Western-Gitarre gesungen werden? Mehr Volkstümlichkeit beziehungsweise mehr Pop geht eigentlich nicht.

Das war Segen und Fluch gleichermaßen. Wondratschek wird in den 70ern ein Autor für jene, die sonst keine Bücher lesen. Als der Pop- und Underground-Hype vorbei ist, steht er folglich ohne Publikum da. Um nicht in die Kleinverlage durchgereicht zu werden oder gleich ganz verstummen zu müssen, wie es einigen seiner Schriftstellerkollegen aus den 70ern ergeht, die mit einem ähnlich offenen, popaffinen Literaturverständnis angetreten sind, Jürgen Theobaldy, Uwe Brandner, Michael Buselmeier et alii, verlegt er sich schließlich auf ein prätentiöses Künstlertum. Und schreibt von nun an vornehmlich Prosa.

Sein Spätwerk reflektiert noch einmal die Bedingungen, Verfahrensweisen und Begleitumstände der Kunst und erzählt von den sich daran zuschande arbeitenden, an ihr leidenden, scheiternden Persönlichkeiten. Mit solchen klassischen, sprachlich verzopften Künstlererzählungen kehrt er dann noch einmal in die bürgerlichen Feuilletons zurück und wird dort auch recht pfleglich behandelt. Als Reminiszenz macht sich Renegatentum immer ganz gut. Der Erfolg seiner späten Romane »Mara«, »Das Geschenk« oder »Selbstbildnis mit russischem Klavier« sei ihm ganz herzlich gegönnt, mir sind seine scheinbar lässig aus dem Handgelenk geschüttelten früheren Texte lieber.

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