Internationale Sorgekette im Pflegesystem: Sorge als Ressource

Seit mittlerweile 60 Jahren wirbt die Bundesrepublik Pflegekräfte aus Indien an. Glaubt man dem deutschen Staat, sei das ein guter Deal für Alle

  • Christa Wichterich
  • Lesedauer: 15 Min.
Die Krankenpflegerin Kandamma A. im Schwesternwohnheim in Brühl, 1972
Die Krankenpflegerin Kandamma A. im Schwesternwohnheim in Brühl, 1972

Triple Win, zu deutsch »dreifacher Gewinn«: Das ist der Name eines Programms, mit dem die Bundesagentur für Arbeit und die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GiZ) seit 2013 Pflegekräfte in Ländern des Globalen Südens anwerben. Denn der Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern und Seniorenheimen hat längst dramatische Ausmaße erreicht. Wenn »drei gewinnen« – das Herkunftsland, Deutschland und die einzelne Pflegekraft – klingt das gut und nach einer Gleichverteilung. Aber sieht so die Realität aus?

Aktuell signalisieren die Reduktion von Krankenhausbetten wegen Personalmangels, die Stilllegung von Abteilungen in der Alten- und Krankenbetreuung und der »Pflexit« – die Flucht von Pflegepersonal aus dem Beruf – die weiter eskalierende Versorgungskrise in Deutschland. Für diese Misere ist wesentlich das sogenannte Fallpauschalensystem verantwortlich, eine Abrechnungsmethode, die auf Quantität und auf Kosteneinsparung statt auf Qualität setzt. Im politischen Jargon ist jedoch »Fachkräftemangel« zum Passepartout geworden, wo immer und egal warum Arbeitskräfte fehlen. Die Rezeptur, um diese Mängel zu überwinden, lautet: Rekrutierung im Ausland, vor allem in Ländern des Globalen Südens.

Seit Ende 2021 besteht im Rahmen des Triple-Win-Programms ein Anwerbeabkommen mit Kerala, dem Bundesstaat mit der höchsten Migrationsrate Indiens. In den Jahren zuvor war trotz Fachkräftemangels im deutschen Gesundheitswesen offiziell nicht in Indien angeworben worden, weil die Weltgesundheitsorganisation WHO 2010 einen Verhaltenskodex für Rekrutierung veröffentlicht hatte: ein Appell an wohlhabende Länder, nicht aus Ländern zu rekrutieren, die selbst unter einem akuten Pflegenotstand litten. Seit diese Liste 2021 revidiert wurde und Indien trotz eigener Unterversorgung von ihr gestrichen wurde, wird in Kerala wieder angeworben. Keralesische Zeitungen berichteten umgehend, dass der deutsche Staat nach der Covid-Pandemie 10 000 Pflegekräfte rekrutiere. Bedingung für die Einwanderung nach Deutschland sind eine abgeschlossene Ausbildung, zwei Jahre Berufserfahrung und Sprachkenntnisse.

Tatsächlich produziert Kerala, wo immer mehr Colleges für Pflegeausbildung entstehen, einen Überschuss an Pflegekräften gemessen am Bedarf des Bundesstaates. Schaut man sich aber ganz Indien an, dann fehlen etwa zwei Millionen Pflegekräfte. Das zeigt sich in dem Pflege-Patient*innen-Verhältnis von 1,7 zu 1000 Einwohner*innen, während die WHO als Norm für den Globalen Süden 3 zu 1000 setzt. Zur Gesundheitsversorgung besteht also letztlich ein dringender Bedarf auf beiden Seiten, in Indien und in Deutschland.

Das Konzept »Gastarbeiterin«

Pflegeengpässe an Krankenhäusern haben eine lange Geschichte in Westdeutschland – ebenso wie Lösungsversuche des Problems durch den Import von Gesundheitspersonal. Bereits zwischen 1963 und 1977 kamen – informell und selbstorganisiert von katholischen Bistümern oder einzelnen Priestern, mithilfe von Caritas und Deutschem Roten Kreuz – 6000 junge, oft erst 16-jährige Frauen aus dem christlichen Kerala als »Schwesternschülerinnen« nach Westdeutschland. Die damalige BRD-Regierung schloss zeitgleich einen Staatsvertrag über technische Entwicklungshilfe mit Südkorea ab: 10 000 hoch-qualifizierte, südkoreanische Krankenpflegerinnen wurden rekrutiert und damit dem dortigen Gesundheitssystem entzogen.

Heute nennt man das eine transnationale Sorgekette und Sorgeextraktion, wobei Akteur*innen im Globalen Norden die menschliche Ressource Sorge extrahieren, ähnlich wie auch natürliche Ressourcen des Südens extrahiert und importiert werden. Die Koreanerinnen erlebten in der BRD gleich zu Beginn eine herbe Enttäuschung, denn ihre Abschlüsse wurden nicht anerkannt. Auf diesem Wege erfuhren sie das häufig gegenüber migrantischen Arbeitskräften angewandte Verfahren, in Märkte eingebunden, aber gleichzeitig abgewertet zu werden. So sah das Gastarbeiter*innenmodell aus: Arbeitskräfte zu rufen, die man gerade brauchte, und sie wieder nach Hause zu schicken, wenn sie nicht mehr benötigt wurden.

1977 wurden die Pflegeengpässe in Deutschland für überwunden erklärt und die Aufenthaltsgenehmigungen der indischen und südkoreanischen Pflegerinnen nicht verlängert. Die Südkoreanerinnen wehrten sich gegen eine erzwungene Rückkehr und argumentierten, dass sie »umgekehrte Entwicklungshilfe« in Deutschland geleistet hätten und nicht wie »Waren« behandelt werden wollten. Viele aus dieser ersten Generation migrantischer Pflegekräfte fanden dennoch Wege, in Westdeutschland zu bleiben, trotz der bitteren Erfahrungen von Geringschätzung und rassistischer Diskriminierung.

Misogynes Stigma

Es gehört zu den grundlegenden Paradoxien unserer Gesellschaft, dass die Sorgearbeit, die jeder Mensch in seinem Leben braucht, gering bewertet und unsichtbar gemacht wird – auf den Märkten und im Privaten. Diese Geringschätzung von Krankenpflege und Sorgearbeit wurzelt zuallererst darin, dass sie als genuin weibliche Tätigkeit und Fortsetzung mütterlicher Aufgaben im öffentlichen Raum gilt. Zu Zeiten der englischen Sozialreformerin und Krankenpflegerin Florence Nightingale wurde die Pflege von einer karitativen Tätigkeit, die Nonnen ausführten, zu einem Beruf. Diesem haftet wegen der Pflege von Soldaten, der Nachtschichten und der Ehelosigkeit der Pflegerinnen zusätzlich das Stigma lockerer Sexualmoral an. Ein Stereotyp, dass sich bis heute etwa in TV-Serien oder dem Kostüm der »sexy Krankenschwester« fortsetzt.

Im indischen Kastensystem trägt noch ein weiterer Faktor zur Abwertung des Pflegeberufs bei: Berührungen mit Körpern und Ausscheidungen gelten als verunreinigend, Körperpflege gilt als »unreine« und folglich verachtete Tätigkeit. In den Missionsschulen im christianisierten Süden Indiens, wo die britischen Kolonialistinnen Krankenschwestern ausbildeten, wurde die Tätigkeit deshalb durch den Einsatz weißer Uniformen als rein, ehrenvoll und professionell geadelt und entsexualisiert.

Doch die extreme Geringschätzung von Körperpflege setzt sich im modernen indischen Gesundheitssystem in einer steilen Hierarchie fort: zwischen den heilenden, medizinischen Fachkräften sowie dem Management am Schreibtisch einerseits und den Hilfskräften andererseits, die Körper pflegen und sauber machen. In öffentlichen und privaten Krankenhäusern ist ein breiter Sockel von Geringqualifizierten, Auszubildenden, Praktikant*innen und befristeten Gelegenheitsarbeiter*innen in einer Grauzone von formaler und informeller Beschäftigung tätig. Oft übernehmen Angehörige die körpernahe Pflege vom Waschen bis zum Essenanreichen selbst und schlafen unter den Patient*innenbetten auf dem Boden. Wohlhabende engagieren für die »unreinen« Arbeiten hingegen private Hilfskräfte, die sie auch privat bezahlen, meist miserabel.

Neoliberalismus und Emigration

Dazu muss man wissen, dass das indische Gesundheitsbudget zu den niedrigsten der Welt gehört. Premierminister Modi betreibt seit Jahren eine neoliberale Privatisierungspolitik in allen sozialen Sektoren, die sich überwiegend gleichgültig stellt gegenüber den Bedürfnissen und Problemen der Armen. Den Gesundheitssektor hat die indische Regierung als Paradebeispiel für neoliberale Umstrukturierung auserkoren – mit dem Resultat, dass heute drei Viertel der Gesundheitseinrichtungen privatisiert sind, von der Ausbildung bis zu den Kliniken. Für die indische Wirtschaft ist der Gesundheitssektor längst ein lukrativer Wachstumsmarkt mit Medizintourismus, biotechnologischer Forschung und einer starken Pharmaindustrie, die auf Generika spezialisiert ist. Die privaten Krankenhäuser sind bekannt dafür, dass sie Dumpinglöhne zahlen und Knebelverträge mit jungen Collegeabsolvent*innen abschließen, die Nachweise für zwei Jahre Praxiserfahrung vorweisen müssen, bevor sie auswandern können.

In Kerala gehört die Migration von Gesundheitsfachkräften seit Jahrzehnten zur individuellen und staatlichen Entwicklungsstrategie. Der Bundesstaat sorgt für ein hohes Bildungsniveau und kassiert dafür die Devisen der Rücküberweisungen. Junge Leute wählen eine Ausbildung im Gesundheitswesen wegen guter Perspektiven im Ausland, vor allem in den Golfstaaten. Bevorzugte Ziele sind allerdings die englischsprachigen Länder USA, Kanada und England, Deutschland rangiert aufgrund der Sprache weit hinten.

Im Unterschied zu den 1960/70er Jahren, als es noch keine gute Pflegeausbildung in Indien gab, hat sich die Zahl privater Colleges für Krankenpflege vervielfältigt. Die Pflegeausbildung besteht aus einem mindestens dreijährigen akademischen Studium mit Praktika in Krankenhäusern und richtet ihre Inhalte zunehmend auf den Bedarf im Ausland aus. Die meisten Studierenden verschulden sich, um die hohen Studiengebühren zu zahlen – in der Hoffnung, dass die gute Ausbildung ihnen im Ausland Anerkennung und gute Jobs beschert. Wegen der lukrativen Migrationsaussichten steigen zunehmend auch junge Männer in den Beruf ein, derzeit zehn Prozent der Auszubildenden.

Wie in vielen anderen Ländern protestieren auch in Indien Gesundheitsarbeiter*innen gegen das Paradox von systematischer Unterbewertung und gesellschaftlichem Bedarf, das besonders während der Covid-Pandemie offensichtlich wurde. Auch wenn die vom Management in indischen Krankenhäusern gezielt betriebene Spaltung zwischen hochqualifizierten Fachkräften und gering-qualifizierten Helferinnen eine betriebliche Organisierung erschwert, kam es in den vergangenen zehn Jahren zu einer Welle gewerkschaftlicher Selbstorganisierung. Die Kämpfe wurden überwiegend initiiert von männlichen Pflegekräften, die sich die katastrophale Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen und die Rückzahlungsprobleme der Schulden nicht bieten lassen wollen. Jeder Kampf für höhere Löhne und Arbeitsrechte ist jedoch auch ein Kampf um Anerkennung.

»Gastarbeiterinnen« 2.0

Neun weibliche und eine männliche Pflegekraft der jungen Generation indischer Pflegekräfte schilderten jüngst in Interviews ihre Situation. Ammu, Gini, Mary und andere, die in den vergangenen zehn Jahren auf individuellen und informellen Wegen einwanderten, arbeiten jetzt in Krankenhäusern in verschiedenen deutschen Städten. Sie haben bisher keine Möglichkeiten, ihre Erfahrungen und Erwartungen öffentlich zu machen. Auch sie kommen meist aus Kerala – allerdings unter völlig anderen Umständen als die Pionierinnen der 1960/70er-Generation und mit einem neuen Selbstbewusstsein. Die Generation 2014+ gehört zu den hochbegehrten Fachkräften im Gesundheitssektor und immigrierte meist vermittelt über ein Netzwerk von Verwandten und Nachbar*innen, die bereits in der EU arbeiten, durch die alten katholischen Verbindungen oder durch private Vermittlungsagenturen, die neuerdings wie Pilze aus dem Marktboden schießen und hohe Gebühren verlangen.

Was in den 1960er Jahren in Kerala sensationell war, dass nämlich 16-Jährige aus den Dörfern abwanderten und dadurch zum Teil die Ernährerrolle des Vaters übernahmen, gehört inzwischen zur normalisierten Migrationskultur. Die erste Generation der nach Deutschland eingewanderten Pflegekräfte stammte aus großen Familien mit bis zu zehn Geschwistern und aus armen bäuerlichen Verhältnissen. Die aktuelle Generation hingegen kommt eher aus Mittelschichtsfamilien mit zwei oder drei Kindern; die jungen Leute entscheiden sich mit Unterstützung der Eltern dafür, zumindest für einige Jahre im Ausland zu arbeiten, während die erste Generation ihren Vätern die Zustimmung meist noch mühsam abringen musste.

Die neue Generation absolvierte ihre Pflegeausbildung an teuren privaten Colleges und verfügt über zumeist mehrjährige Arbeitserfahrungen in indischen Krankenhäusern. Deutsch lernten die Pflegekräfte bis zum Niveau B2 an einem Goethe-Institut in Kerala, die schwierige Vorbedingung, eine Beschäftigungsoption an einem deutschen Krankenhaus mit dem Visumsantrag vorzuweisen, wurde mithilfe einer »Tante«, eines Priesters oder einer Agentur in Kerala oder Deutschland erfüllt. Ihnen gelingt es durch den in Deutschland erhaltenen Lohn, Schulden zu begleichen und für eine Mitgift zu sparen. Ihr transnationales Familienleben bedeutet heutzutage, dass viele dieser Arbeitsmigrantinnen täglich lange Videocalls mit ihrer Familie durchführen. Dadurch stehen sie trotz der geographischen Distanz mitten im Alltagsleben der Eltern, sprechen ihre Muttersprache Malayali, empfehlen Verwandten Medikamente oder stellen einen täglichen Sichtkontakt mit den Enkeln her.

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Schmerzhafte Anpassung

Die erste Generation indischer Pflegerinnen in der BRD ist in dem Dokumentarfilm »Brown Angels« sehr gut dargestellt. Sie kamen zunächst per Schiff in kleinen Gruppen, angeworben meist durch Priester in ihren Heimatdörfern. Alltag und Unterbringung in »Schwesternheimen«, die Ausbildung zur Krankenpflegerin und das Erlernen der Sprache verlangten den jungen Frauen starke Anpassungen ab, das deutsche Essen fanden sie ungenießbar, das Wetter unerträglich. Sie litten unter der Trennung von ihrer Familie und einem Kulturschock, taten aber doch, »was getan werden musste«, und kommunizierten mit einem Brief pro Woche mit der Familie. Besonders schmerzhaft war in späteren Jahren für einige Frauen, dass sie sich von ihren kleinen Kindern trennen und sie in Kerala zurücklassen mussten. Wenn die Ehemänner nach Deutschland kamen, vollzog sich in der Familie ein weiterer Rollenbruch: Die Männer betreuten die Kinder, während die Frauen in Vollzeit arbeiteten – das war damals in Kerala undenkbar und auch in Deutschland noch eine Ausnahme.

Zentrales Migrationsmotiv für diese Frauen war es, ihre Familien in Kerala durch Rücküberweisungen zu unterstützen, anfangs durch die Finanzierung der Ausbildung der Geschwister, später durch den Bau eines Hauses für die Eltern. Migration war eine familiäre Überlebensstrategie. Dabei sehen die Frauen sich in diesem Szenario keineswegs als Opfer, sondern entwickelten Selbstvertrauen und Handlungsfähigkeit.

Rückblickend betrachten die nach 40 Jahren Arbeit im deutschen Gesundheitswesen inzwischen verrenteten Krankenpfleger*innen die Unterstützung ihrer Eltern und der vielen Geschwister als ihre große Lebensleistung. Gleichzeitig leisteten sie einen unverzichtbaren Beitrag zum deutschen Gesundheitswesen. Elsy aus Köln zum Beispiel ist stolz auf das Erreichte: Sie hat nicht nur die Ausbildung ihrer acht Geschwister ermöglicht, sondern machte über 30 Jahre lang Nachtdienst auf der Intensivstation, zu Beginn, um mehr zu verdienen, dann aber vor allem, um Leiden zu lindern und Menschen beim Sterben beizustehen. Das war körperliche und psychische Schwerstarbeit, die sie jahrelang damit vereinbarte, zwei Töchter aufzuziehen.

Integration und Abwertung

Für die Generation 2014+ war hingegen die Anerkennung als Fachkraft im deutschen Gesundheitswesen die größte Herausforderung bei der Migration. Alle zugewanderten Pflegekräfte berichten, dass sie sechs bis zwölf Monate lang mit enormen bürokratischen Hürden und Anforderungen konfrontiert waren. Ständig mussten sie Dokumente und Bescheinigungen nachliefern, bevor sie ihr Visum und ihre Genehmigungen von der deutschen Botschaft in Indien und der Ausländerbehörde in Deutschland erhielten. Auch wenn die Pflegekräfte einen Arbeitsvertrag haben, sind sie immer wieder mit diesem zeit- und kräftezehrenden bürokratischen Machtspiel konfrontiert, sobald sie ihre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erneuern müssen. »Ganz schlimm ist Ausländeramt, ich rufe 1000 mal an, niemand nimmt ab, wir bekommen keine Antwort, kostet soviel Zeit, ganze Tage, niemand erreichbar, jede aus dem Ausland sagt das«, berichtet Gini. Sie fühlt sich wie viele andere in eine Bittsteller*innenposition gezwungen, in der sie diszipliniert und kontrolliert, aber auch gedemütigt werden. Die Probleme mit den Behörden werden als ständige Kampfsituation wahrgenommen, die zu der Arbeit in Deutschland dazugehört und die Betroffenen permanent unter Stress setzt.

Nach der Ankunft im deutschen Zielkrankenhaus werden die Pflegekräfte aus Indien zunächst als Pflegeassistent*innen mit circa 800 Euro geringerer Bezahlung eingestuft – auch dies eine Form der Integration bei gleichzeitiger Abwertung. »Sie zögern Anerkennung heraus, um Leute nicht bezahlen zu müssen«, meint der Pfleger Santosh. Nach gerade einmal sechs Monaten muss eine »Anpassungsprüfung« in einem speziellen medizinischen Bereich abgelegt werden, beispielsweise in der Geriatrie. Nicht bestandene Prüfungen können nach einigen Monaten wiederholt werden, erst danach erfolgt die Beschäftigung als »examinierte« Krankenpflegekraft entsprechend Tariflohn. Beide Verfahren zur formalen Anerkennung im Krankenhaus und durch die Behörden kommen einem Initiationsritus für migrantische Fachkräfte gleich, der als unfair und schikanös wahrgenommen wird. Adi, Krankenpfleger in Berlin, meint dazu: »Wenn Deutschland attraktiv für migrantische Gesundheitsarbeiter*innen sein will, muss sich vieles ändern.«

Einerseits genießen viele indische Pflegekräfte in Deutschland die geregelte Arbeit, acht Stunden pro Tag, bezahlte Überstunden, »viel Freizeit« und Urlaub und das Gefühl, im Vergleich zu Indien gut zu verdienen. Am stärksten loben sie die flache Hierarchie im Krankenhaus und die gute Teamarbeit, weil älteres Pflegepersonal die gleichen Aufgaben übernimmt wie sie und sie nach ihrer Meinung fragt. »Der Oberarzt setzt sich in der Kantine neben mich und redet ganz normal mit mir«, freut sich Mary.

Auf der anderen Seite bleibt die bittere Erfahrung, dass das eigene medizinische Wissen und die akademische Ausbildung nicht angemessen gewertet werden. Weil sie Körperpflege übernehmen müssen und zum Beispiel keine intravenösen Injektionen geben dürfen, fühlen sich viele der Pflegekräfte unterfordert. Zwar sind sie im Vergleich zu indischen Krankenhäusern weniger gestresst und erschöpft, aber je länger sie in Deutschland arbeiten, desto stärker nehmen sie auch hier die Belastungen und den Stress durch das neoliberale Krankenhausmanagement und den Personalmangel wahr, etwa wenn zu wenige Pflegekräfte in der Nachtschicht oder der Ambulanz eingesetzt sind. Hinzu kommt, dass die Migrant*innen immer wieder entgegen ihrer Wünsche in Schichten und auf Stationen eingeteilt werden, wo sie ungern arbeiten, etwa trotz mehrfacher eigener Infektion auf der Covid-Station. Insgesamt bleibt ihre Wahrnehmung der Arbeit in deutschen Krankenhäusern daher äußerst ambivalent: Sie schätzen die überwiegend guten Arbeitsbedingungen, aber leiden unter der Dequalifizierung.

Im Krankenhaus und von den Kolleg*innen respektiert und unterstützt zu werden, ist eine wesentliche Quelle von Arbeitszufriedenheit und für ein Gefühl von Zugehörigkeit. Gefragt nach Diskriminierung und Rassismus, bestreiten viele der Pflegekräfte zunächst derartige Erfahrungen. Dann aber räumen sie einzelne rassistische Erfahrungen ein, zum Beispiel durch Patient*innen, die nicht von Ausländer*innen behandelt werden wollten oder vorgaben, sie nicht zu verstehen. »Ich hab das am Anfang nicht gemerkt, weil ich ja zu allen freundlich sein musste«, erklärt Ligi. Insgesamt tendieren die Pflegekräfte aber dazu, Alltagsrassismus aufgrund ihrer Hautfarbe zu verdrängen und umzudeuten, indem sie ihn auf unzureichende Deutschkenntnisse zurückführen oder zum Beispiel in öffentliche Verkehrsmittel oder in das Umfeld des Ehemanns auslagern.

In den Berichten der Krankenpfleger*innen der ersten Generation wurden Diskriminierung und Rassismus in ähnlicher Weise abgemildert oder umgedeutet. Der hier häufig angeführte Verweis auf das Bild der »braunen Engel«, die in Deutschland ihrer Meinung nach so beliebt und geschätzt waren, ist eine Gegenerzählung zur Diskriminierung. Für beide Generationen gehört die permanente Abwehr von Geringschätzung und Abwertung sowie die Verharmlosung oder individuelle Verarbeitung von Diskriminierung zur migrantischen Arbeitsnormalität.

Wer gewinnt?

Gleichzeitig entwickeln viele der Befragten immer mehr Energien, diese Problemsituationen mithilfe ihrer Netzwerke zu bewältigen: »Ich komme mit allem zurecht. Ich bin stark. Ich kämpfe mich durch«, betont etwa Adi in Berlin. Überzeugt von den eigenen beruflichen Fähigkeiten und stolz auf die gewonnene Selbständigkeit hat die Generation 2014+ eine selbstbewusste Lebensplanung. Die meisten wollen trotz aller Ambivalenzen und Spannungen in Deutschland bleiben und ein transnationales Familienleben führen.

p { margin-bottom: 0.25cm; direction: ltr; line-height: 115%; text-align: left; orphans: 2; widows: 2; background: transparent } <font face=»Cambria«>Viele unterschiedliche Interessen sind im Spiel, von den jungen Frauen, die einen höheren Lebensstandard in Deutschland erwarten, über die Agenturen, die Vermittlungsgebühren kassieren, bis zu den bundesdeutschen Krankenhäusern, die händeringend Personal sucheViele unterschiedliche Interessen sind im Spiel – von den jungen Frauen, die einen höheren Lebensstandard in Deutschland erwarten, über die Agenturen, die Vermittlungsgebühren kassieren, bis zu den bundesdeutschen Krankenhäusern, die händeringend Personal suchen. Derweil behauptet das Triple-Win-Programm der Bundesregierung, transnationale Sorgeketten nach Deutschland und die Sorgeextraktion aus Kerala staatlich zu normalisieren. 2022 wurden 200 Pflegekräfte rekrutiert, 325 haben sich aktuell beworben, bis 2024 sollen 1000 weitere ab- beziehungsweise angeworben werden. Immer noch bleiben Fragen offen: Wer gewinnt hier was? Wie verteilen sich in solch einem ungleichen, widersprüchlichen System die Gewinne und die Verluste? Adi resümiert cool: »Während der Covid-Zeit haben wir gearbeitet wie der Teufel. Aber die Staatsbürgerschaft haben sie uns dafür nicht gegeben.«

Die Fotografie zu diesem Artikel wurde zur Verfügung gestellt von der Plattform für transkulturelle Kreativität Masala Movement e. V.

Zur Autorin

Christa Wichterich ist feministische Soziologin. Sie hatte eine Gastprofessur für Geschlechterpolitik an der Uni Kassel, derzeit forscht und publiziert sie vor allem zu transnationalen Sorgeketten und sozial-ökologischer Transformation. Ihr Buch »Who Cares? Care Extraction and the Struggles of Indian Health Workers« erschien jüngst in dem feministischen indischen Verlag Zubaan.

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