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Ausstellung: DDR-Alltag zum Anfassen
Das Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt zeigt, wie das Leben in der DDR war
»Schau mal, ›Kassandra‹. Das habe ich auch gelesen!«, ruft eine ältere Frau begeistert. Sie steht vor einer Glasvitrine mit verschiedenen Büchern und Texten aus den 80ern, den letzten Jahren der DDR, und deutet begeistert auf den Roman von Christa Wolf. Sie ist nicht die Einzige im Museum Utopie und Alltag, die immer wieder stehen bleibt und sich an bekannten Büchern, Schallplatten und Magazinen erfreut. Oder verwundert und erstaunt ist. Vielen Besuchern geht es so. »Das sind Erinnerungsanlässe für die Älteren. Die Jüngeren, die stolpern dann über andere Dinge. Die sagen sich: ›Aha, so ein Fotoapparat, wie funktioniert der überhaupt? Das mache ich mit dem Handy‹«, sagt Kurator Axel Drieschner im Gespräch mit »nd« über die Besucher*innen des Museums.
Neben »Kassandra« von Christa Wolf sind viele weitere Alltagsgegenstände in der Dauerausstellung »Alltag: DDR« vertreten, die seit 2012 im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt zu sehen ist. Es bildet zusammen mit dem Kunstarchiv Beeskow das Museum Utopie und Alltag. Insgesamt besteht die Sammlung des Museums aus über 170 000 Objekten der Alltagskultur und ungefähr 185 000 Kunstwerken. »Gerade einmal ein Prozent, wenn nicht weniger, sind von der Sammlung im Museum zu sehen«, sagt Drieschner. Als Kurator ist er nicht nur für die Dauerausstellung, sondern auch für die verschiedenen Sonderausstellungen des Dokumentationszentrums verantwortlich.
Diese wechseln alle paar Monate, seit Anfang Juni können Besucher*innen unterschiedliche Grafikmappen betrachten, die zum Thema Revolution in der DDR herausgegeben wurden. Viele entstanden im offiziellen Auftrag verschiedener staatlicher und kultureller Institutionen der DDR zwischen 1950 und 1990 anlässlich der Jahrestage der Oktober-Revolution, der Französischen Revolution oder der November-Revolution. Zusätzlich zu dieser Sonderausstellung »Revolutionen« im ersten Stock des Hauses ist im Museumsfoyer eine kleine Wanderausstellung des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften aus Leipzig zu sehen. »P wie Protest« fragt, wie Widerstand und Protest in Deutschland aussehen und wahrgenommen werden. Dabei wird der Revolutionsbegriff der Grafikmappenausstellung weiter erörtert und vergegenwärtigt. »Mit den Sonderausstellungen geht es uns darum, etwas Neues zu erzählen«, erklärt Andrea Wieloch, die Leiterin des Hauses.
So auch bei der vorherigen Sonderausstellung »Grenzen der Freundschaft: Tourismus zwischen DDR, ČSSR und Polen«. Kurator Drieschner erzählt: »Das war sozusagen ein Projekt 1972 zwischen der DDR, Tschechoslowakei und Polen, pass- und visafrei zwischen den drei Ländern zu reisen. Damals war es sehr wichtig, weil es fast jeden bewegt hat, in eins der Länder zu fahren, manchmal auch mehrfach. Ein Bestandteil des Projekts war, dass Leute hier und in Frankfurt von Studierenden befragt worden sind. Viele hatten was zu erzählen. Die erinnerten sich gerne an ihre Reisen.« Für die Ausstellung, die bis Ende April zu sehen war, kooperierte das Museum mit der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder).
Ob Grafikmappen, Tourismus, Reisen oder Kunststoff – viele verschiedene Dinge, die das Leben in der DDR geprägt haben, gibt es heute auch noch, wenn auch in anderer Form. Diese Auseinandersetzung findet in der Dauerausstellung über mehrere Räume hinweg statt, die Gegenstände, Fotografien, Videos und Texttafeln sind thematisch angeordnet. Es werden unterschiedlichste Aspekte des Alltags beleuchtet, von Bildung über Konsum und Arbeit hinweg zu Subkulturen. Zu sehen sind SED-Flugblätter, Suppenpulver, aber auch Fotografien von Punks. Wieloch sagt, sie verstehe das Museum als »einen Diskursraum, einen Möglichkeitsraum. Wir sind keine Expertengruppe, die die DDR erzählt. Die Ergebnisse werden sich deutlich unterscheiden von dem, was man in anderen Museen zur DDR sieht, weil auch die Herangehensweise eine ganz andere ist.« So gebe es »ein kooperatives, sehr experimentelles, offenes Zusammenspiel mit Leuten von außerhalb«. Viele der Mitarbeiter*innen des Museums sind selbst in Eisenhüttenstadt geboren und aufgewachsen. »Das ist schon etwas Besonderes, wenn man in diesem Haus arbeitet«, meint eine junge Mitarbeiterin zu »nd«.
Der Standort des Museums ist bewusst gewählt. Eisenhüttenstadt wurde als »erste sozialistische Stadt« der DDR konzipiert. Heutzutage bildet die Planstadt das größte zusammenhängende Flächendenkmal Deutschlands. 1950 fingen die Bauarbeiten für eine Wohnstadt der Arbeiter eines Stahlwerks an, das in unmittelbarer Nähe errichtet wurde. Dass ausgerechnet ein Museum zur Dokumentation des Alltags in der DDR sich inmitten des zweiten Wohnkomplexes dieser Stadt befindet, ist wenig überraschend – die Veranschaulichung des DDR-Alltags beschränkt sich somit nicht auf die vielen Objekte innerhalb des Museums. Früher war in dem Gebäude eine Kinderkrippe für die Anwohner. Der Gründungsidee folgte eine Einladung an die Bevölkerung, »einzureichen, was diese selbst für erinnerungswertvoll hielt«, so Wieloch. »Die Menschen in Eisenhüttenstadt haben sich nach 1990 neu eingerichtet und westliche Konsumgüter gekauft«, führt ihr Kollege Drieschner aus. »Alles, was sie für erhaltenswert hielten, haben sie ins Museum gebracht und so ist über die Zeit eine riesige Sammlung entstanden.«
Alltagsgegenstände veranschaulichen besser als Texte, Filme und Bücher, wie das Leben in der DDR aussah; sie machen sie erlebbar, nicht nur die materielle Konsum-und Arbeitskultur, sondern auch gesellschaftliche Werte und soziale Normen. »Wir haben zum Beispiel eine ganze Reihe von schwarzen Puppen und Kriegsspielzeug. Das kann man alles sehr gut nutzen, um unterschiedliche Themen zu beleuchten«, erläutert Drieschner. So sollen junge Menschen, die keine eigenen Erinnerungen an die DDR und keinen persönlichen Bezug haben, abgeholt werden.
Zugleich versucht das Museum auch, das generelle Bild von der DDR und Ostdeutschland, das sehr vorurteilsbehaftet ist, zu durchbrechen. »Wenn sich die Menschen im Museum über etwas unterhalten, dann merkt man, wie sie sich widersprechen und korrigieren und wie sie gemeinsam auf der Suche sind nach ihren Erinnerungen«, sagt Wieloch. Dieses gemeinsame Suchen, aber auch das Beleuchten von verschiedenen Lebensrealitäten in der DDR soll in Zukunft noch mehr im Fokus sein: »Ein differenziertes Bild zu vermitteln, das von der geschichtlichen Chronologie über Querschnittsthemen reicht. Bestimmte Querschnittsthemen, die uns heute wichtig sind, zum Beispiel Migration oder auch Fragen von Gender.«
Im Gegensatz zur Sicht vieler anderer Institutionen liegt der Fokus weder auf Diktaturgeschichte, noch verfällt das Museum in »Ostalgie«. Es wird einfach gefragt: Wie hat man damals gelebt, warum war das eigentlich so? Wie richteten Menschen sich ihr Leben ein? »Da gibt es ein besonderes Potenzial in der DDR-Geschichte. Sie ist abgeschlossen, gleichzeitig gibt es aber noch viele Menschen, die sie miterlebt haben«, so Wieloch.
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