Wer den Baum liebt ...

»Shared Landscapes« – ein Performance-Parcours im brandenburgischen Wald bei Hangelsberg

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 5 Min.
Landscape in einer Landschaft – Brandenburg macht es möglich.
Landscape in einer Landschaft – Brandenburg macht es möglich.

Den Bewohnern der im Speckgürtel Berlins gelegenen Gemeinde Hangelsberg bietet sich dieser Tage ein illustres Bild. Wanderer sind sie hier gewohnt, doch dürften die Kulturinteressierten, die derzeit aus dem RE1 stolpern, sich am Bahndamm fragend umsehen und den Hangelsberger Forst zunächst vor lauter Bäumen nicht erkennen, einen speziellen Eindruck hinterlassen. Wie Naturliebhaber erscheinen sie nicht, zu blass, zu schlecht ausgestattet sind sie, zu eng ihre Hosen, zu schwer ihre Rucksäcke, zu cool ihre Schuhe, mit denen sie endlich den Eingang in den Wald finden, wo schon bald die Mückenschwärme über sie herfallen.

»Shared Landscapes« – unter diesem Titel haben die Kuratorin Caroline Barneaud und Stefan Kaegi von der Theatergruppe Rimini Protokoll einen Kunst-Parcours durch den Hangelsberger Forst konzipiert. Die erste der Arbeiten stammt von Kaegi selbst. Nicht ungewöhnlich für diesen Künstler, ist es eine Art Radiofeature.

Die Besucher werden aufgefordert, sich auf einer Lichtung auf den Boden zu legen und über Kopfhörer einem Gespräch zu lauschen. Man folgt einem Förster, einer Psychoanalytikerin, einem Kind und einer brasilianischen Sängerin auf ihrem Spaziergang durch den Wald. Sie befragen sich jeweils zu ihren Einstellungen zur Natur, kommen vom Hölzchen aufs Stöckchen. Die Musikerin erzählt von ihrem Schreck, als sie sah, dass in Deutschland Bäume markiert werden. Die Analytikerin erkennt im Unbewussten den natürlichen Part im Kulturwesen Mensch. Der Förster erklärt, wie schnell Tierkadaver verwesen, von einem Reh sei nach vier Wochen nicht mehr viel übrig. Und der blitzgescheite Junge antwortet auf die Frage, ob er sich im Wald wohlfühle, das sei nicht der Fall, und zwar weil er, anders als alle Tiere und Bäume hier, gar nicht wisse, was er hier zu tun habe.

Man denkt noch häufiger an diese Erklärung zurück in den folgenden sechseinhalb Stunden. Tatsächlich lässt sich dieser Spaziergang mit der Frage überschreiben: Was macht ein Mensch des 21. Jahrhunderts im Wald? Welche Haltung nimmt er zu seiner Umwelt ein? Und welche ethischen und politischen Konsequenzen folgen aus dieser?

Die sieben Stationen, an denen die Besucher in Gruppen entlanggeschleust werden, bieten verschiedene Zugänge, teils sogar sehr klare Antworten. Die erfreulichste liefert der Komponist Ari Benjamin Meyers, der mehrere kurze Musikstücke für ein kleines Blasorchester geschrieben hat. Plötzlich zwischen Bäumen auftauchend oder inmitten von Büschen und am Wegesrand in Kuhlen liegend, imitieren die Instrumentalisten schlafende Tiere, säuseln dem Wind nach, markieren auch mal dynamisch Kontrapunkte zur Stille, geben so den Besuchern humorvoll, sacht und doch bestimmt Hinweise, wohin sie sich wenden könnten auf dieser Suche nach der eigenen Position im Wald. Im Zweifel kann man hier jedoch einfach stehen bleiben, lauschen und sich dabei genau richtig fühlen.

Auch die Künstlerin Begüm Erciyas und der Filmemacher Daniel Kötter bieten ihrem Publikum eine besondere Erfahrung. Sie lassen es schweben. Mit VR-Brillen ausgestattet, heben die Zuschauer vom Waldboden ab, fahren gen Himmel, überragen bald die Baumwipfel und schauen auf den Forst hinab. Die Arbeit ist eingebettet in eine Recherche zum armenisch-aserbaidschanischen Grenzkonflikt. Eine der umkämpften Regionen lebt vom Bergbau, der kurze Krieg im Jahr 2020 wurde maßgeblich mit Drohnen geführt. Diesen Landstrich kann man also geopolitisch nur verstehen, wenn man ihn als vertikal strukturierten Raum auffasst und sich von der gewohnten horizontalen Sichtachse verabschiedet. Man muss den gesellschaftlichen Hintergrund nicht kennen, um sich von dieser Arbeit beeindrucken zu lassen. Der Blick von oben herab auf die Baumwipfel ist herrlich – und die Illusion, fliegen zu können, bereitet sowieso immer Freude.

Über sich selbst hinauswachsen sollen die Zuschauer auch bei Sofia Dias und Vítor Roriz. Sie leiten die Zuschauergruppe über Kopfhörer durch den Wald, fordern sie auf, einen Kreis zu bilden, sich an den Händen zu halten, die Umgebung zu spüren, eins mit ihr zu werden, sich in einen Berg oder einen Baum zu verwandeln. Dass nicht jede und jeder hier teilnehmen mag, wussten die beiden schon vorher; sie werfen jenen voreilig Zynismus vor. Aber ist es Zynismus, wenn mancher hier nichts als esoterische Klischees erkennt? Nicht nur diese Arbeit lässt jedenfalls den Verdacht zu, dass die Kuratoren ihr Publikum etwas unterschätzen.

In den letzten Jahren versuchen weltweit Denker aller möglichen Disziplinen die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen dem Menschen und seiner Umwelt neu zu verorten. Die intellektuelle Großanstrengung betrifft Wirtschaft, Recht, Ethik, Soziologie; sie berührt ganz neue Ideen über den Menschen, von Systemen, Zeit und Raum. Vor diesem Hintergrund fragt man sich dann schon, warum man weiterhin auf das Erkenntnispotenzial einer Baumumarmung setzen sollte.

Auch das spanische Kollektiv El Conde de Torrefiel reduziert in seinem Beitrag eifrig Komplexität. Es hat ein LED-Panel in die Landschaft gestellt, auf dem ein längerer Monolog abläuft, in dem die Natur selbst zum Publikum spricht beziehungsweise ihm eine gepfefferte Standpauke hält. Zu bedrohlich dräuender Musik wird da noch einmal der Auszug des Menschen aus dem Naturzustand und sein moralischer Abstieg zum despotischen Herrscher über die Welt rekapituliert. Aber nun ist Schluss mit Raubbau und Umweltverschmutzung: Die Natur kündigt an, zurückzuschlagen, Vulkane ausbrechen zu lassen, Stürme zu entfachen und die Meere steigen zu lassen. »Die Ausrottung eurer Spezies wird eine Erlösung sein./ Sie ist ganz nah.«

Frank Schätzings »Der Schwarm« trifft hier auf die Apokalypse des Johannes. Das Pathos ist durchaus ernst gemeint und soll wohl die konzeptionellen Schwächen dieses Textes kaschieren. Die größte liegt darin, dass diese Natur hier eben völlig vermenschlicht ist. Es klingt so, als würde Karl der Käfer eine wütende Kirchentagspredigt halten. Selbst als Kindertheater wäre diese Arbeit aber nicht auf der geistigen Höhe der Zeit.

Zum Glück gibt es am Ende noch einmal ein Stück von Ari Benjamin Meyers. Dann geht es zurück zum Bahndamm, wo die Dorfjugend zu lauter Musik Alcopops genießt und die Besucher schon einmal ihre Mückenstiche zählen. Jeder Zentimeter Haut, der nicht mit Autan besprüht wurde, schwillt rot an. Man könnte meinen, diese kunstinteressierten Spaziergänger hätten sich ein bisschen Wald einverleibt, als wüchsen in ihnen kleine Bäume und die Kronen stießen an die Innenseite der Haut.

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