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Schwerer Arbeitsunfall an der FU Berlin
Erneut ist ein Mitarbeiter der Tiermedizin verunfallt, die Belegschaft bemängelt Überlastung und Tarifbruch
Es ist nicht der erste schwere Arbeitsunfall. Bereits 2017 verunfallte am Berliner Stadtrand in Zehlendorf, am Campus Düppel ein Tierpfleger bei der Versorgung einiger Kälber schwer. Auf dem Campus befindet sich die Fortpflanzungsklinik des Fachbereichs Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin (FU). Wie die Tageszeitung »Junge Welt« im Mai berichtete, leidet der Pfleger seitdem an einer posttraumatischen Belastungsstörung und ist berufsunfähig.
Am 2. August ereignete sich nun erneut ein schwerer Unfall am selben Fachbereich, diesmal auf dem Campus Dahlem. Ein Beschäftigter des Instituts für Tierernährung geriet mit der Hand in eine Futtermittelmischmaschine. Dabei kam es zu einem Teilabriss des rechten Zeigefingers. Zwei Tage später, am 4. August, erfolgte eine Betriebsinspektion, an der unter anderem Vertreter*innen der Unfallkasse Berlin und des Landesamtes für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit (Lagetsi) sowie des Personalrats teilnahmen. Das Lagetsi und die Unfallkasse registrierten diverse Mängel und leiteten weitergehende Ermittlungen ein.
In einem Schreiben an die Universität, das »nd« vorliegt, nennt die Unfallkasse, die Futtermaschine betreffend, zahlreiche Verletzungen des Arbeitsschutzes, darunter die »Außerkraftsetzung von Sicherheitseinrichtungen«. Zudem habe sie Arbeitszeitverstöße beobachtet. Die Kasse behalte sich vor, Regressansprüche zu prüfen.
Die FU bestätigte »nd« den Unfall und teilte mit, dass die Maschine nicht wieder in Betrieb genommen worden sei. Weitere Angaben zu den Umständen des Unfalls lehnte sie mit der Begründung ab, dass es sich um eine vertrauliche Personalangelegenheit handele.
Dem Unfall gingen eine Reihe von Beschwerden voraus, vor allem wegen hoher Arbeitsbelastung aufgrund der dünnen Personaldecke. In Anerkennung dessen wurde das Versorgungsangebot bereits heruntergefahren, ein Rund-um-die-Uhr-Notdienst der Tierklinik eingestellt. Die Betriebsgruppe der Gewerkschaft Verdi an der FU problematisiert die personellen Engpässe schon seit Jahren. In einer aktuellen Veröffentlichung heißt es, dass durch die Einstellung der Notversorgung die Aberkennung der europäischen Zulassung für die veterinärmedizinische Ausbildung und damit auch der Abschlüsse von 1600 Studierenden drohe.
Zum Zusammenhang von Personalmangel und Arbeitsunfällen meint der Sprecher der Betriebsgruppe, Claudius Naumann, gegenüber »nd«: »Der Personalmangel verdichtet die Arbeit. Die Beschäftigten müssen mehr arbeiten und mehr am Stück arbeiten. Dadurch steigt die Müdigkeit, es passieren mehr Fehler.« In der Vergangenheit hatten mehrere Personen dem Arbeitgeber Überlastungen angezeigt. Laut Lukas Schmolzi, Vertrauensperson von Verdi an der FU, liegt auch eine Überlastungsanzeige für die nun schwer verunfallte Person vor.
Dabei lässt sich der Personalmangel auch auf die Arbeitsbedingungen zurückführen. Eine Tierpflegefachangestelle, die seit 2017 am Fachbereich ist, nun aber auf eigenes Drängen einen Aufhebungsvertrag unterschrieben hat, sagte »nd«: »Ich habe, seit ich mitbekommen habe, dass ich falsch eingruppiert wurde, mehrfach einen Antrag auf Höhergruppierung gestellt. Bis heute hat sich nichts getan, und ich glaube auch nicht, dass sich da noch etwas tun wird.«
An der FU gilt der Tarifvertrag der Länder. Demzufolge werden Beschäftigte entlang ihres Tätigkeitsprofils in unterschiedliche Lohngruppen eingeteilt. Laut der Tierpflegerin habe sich für sie ein Lohndefizit von 4600 Euro ergeben. Doch nicht nur durch falsche Eingruppierungen würden den Beschäftigten Bezüge entgehen. Die Betriebsgruppe und der Gesamtpersonalrat meinen, durch die Nichtausbezahlung von tariflich vorgesehenen Zuschlägen, allein in der Veterinärmedizin, hätten sich Lohnrückstände von etwa einer Million Euro angehäuft.
Die FU teilt »nd« mit: »Die Freie Universität Berlin hält sich selbstverständlich an die geltenden tariflichen Verträge, ein strukturelles Missachten der Tarifvereinbarungen weist sie von sich.« Damit reagiert die FU auf die Behauptung der Betriebsgruppe, dass die Uni aufgrund der Vielzahl, des Umfangs und der Dauer der Vorenthaltungen tariflicher Ansprüche bewusst gegen den Tarifvertrag verstoßen habe.
Die Betriebsgruppe indes drängt die Gewerkschaft zu kollektiven Maßnahmen, insbesondere einen Streik zu erwägen, um die Uni zur Einhaltung des Tarifvertrags und zur Zahlung der offenen Ansprüche zu bewegen. Die deutsche Rechtsprechung sieht das bisher nicht vor. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen hält einen Streik jedoch dann für angemessen, wenn Arbeitgeber Tarifverträge bewusst missachten.
Die Tierpflegerin, die die FU nun verlässt, meint, dass sie den individuellen Klageweg wegen finanzieller wie psychischer Belastung nicht beschreiten werde: »Ich will das alles ganz und gar hinter mir lassen und in einem anderen Bundesland neu anfangen.«
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