Kinofilm »Passages«: Der Mann, der sich abwandte

Der Film »Passages« verhandelt die Ethik der Liebe zwischen Bedürfnis, Begehren und Verantwortung

  • Anna Gyapjas
  • Lesedauer: 5 Min.
Sind sich im gegenseitigen Wegstoßen und Wieder-Anziehen verbunden: Tomas (Franz Rogowski, sitzend) und Martin (Ben Whishaw)
Sind sich im gegenseitigen Wegstoßen und Wieder-Anziehen verbunden: Tomas (Franz Rogowski, sitzend) und Martin (Ben Whishaw)

Kannst du ihm sagen, dass er ein bisschen früher kommen soll? Er war ein bisschen spät.» Was wie eine harmlose Bitte klingt, noch bevor das erste Bild von «Passages» eingeblendet wird, ist viel mehr als das: ein mühelos dahingeworfener erster Entwurf der Charakterstudie eines queeren Mannes, der kommandieren und kontrollieren muss, um sich sicher zu fühlen – und dem dabei doch alles entgleitet.

Der Plot von «Passages» ist schnell erzählt: Verheirateter Mann trifft Frau, sie beginnen eine Affäre, die Welt gerät aus den Fugen. Was simpel klingt, ist im zwischenmenschlichen Alltag der Figuren jedoch so atemberaubend wie ein Thriller, erst recht, wenn Regisseur Ira Sachs als Großmeister menschlicher Feinstofflichkeit jeder Begegnung die Aufmerksamkeit schenkt, die ihr gebührt.

Den Wunsch nach Pünktlichkeit spricht der deutsche Filmemacher Tomas (Franz Rogowski) an einem Filmset aus. Was die Leute vor der Kamera angeht, kennt Tomas kein Halten: Entschlossen weist er die Statisten an. Mit seiner Geduld ist es allerdings vorbei, als einer von ihnen partout nicht so lässig eine Treppe herabsteigt, wie er es gerne hätte. Tomas wird laut und unwirsch – trotz oder gerade wegen seiner Machtposition – und entpuppt sich damit als Objekt der Begierde von Agathe (Adèle Exarchopoulos), einer französischen Lehrerin, die hinter den Kulissen mitwirkt.

Bei der Party nach Drehschluss ist auch Tomas’ englischer Partner Martin (Ben Whishaw) dabei, der verblüffende Ähnlichkeit mit dem enttäuschenden Treppensteiger aufweist. Und so entpuppt sich die Eröffnungssequenz als Prolog, in dem schon alles angelegt ist: Tomas’ Unzufriedenheit mit seiner Ehe, aber auch das faszinierende Brodeln in ihm, das wie ein Magnet auf sein Umfeld wirkt.

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Toxische Männlichkeit, Narzissmus, Manipulation: Das sind große Begriffe, die dank Social Media zwar in aller Munde sind, deren Anwendung aber kniffliger ist, als man annehmen könnte. Ob die Schlagworte bei Tomas zutreffen, kann jede*r für sich selbst entscheiden, die eigenen Erfahrungen werden dabei keine unwesentliche Rolle spielen. Nicht zu leugnen ist die unbedingte Hingabe an den Moment, die Rogowski hervorragend zu verkörpern weiß und die auch die Figur der Agathe in ihren Bann zieht.

Umso eindringlicher ist das Bild, das Sachs für seinen Protagonisten findet: Von Tomas sehen wir zumeist seinen Rücken. Mag er von Angesicht zu Angesicht mal bedürftig, mal ergeben oder provokant wirken, für das Publikum – und auch für die anderen Protagonist*innen – bleibt er letztendlich unlesbar und der Mann, der sich abwendet. Etwa, als er nach der ersten Nacht bei Agathe heimkehrt, wo ihn Martin wortlos empfängt und Tomas sich im Nebenzimmer sammelt, um durch die Tür eine Entschuldigung rüberzurufen. Oder als er Agathe später wieder begegnet, sie den Raum verlässt und wir Tomas von hinten dabei zusehen, wie er ausharrt, hadert und ihr schließlich hinterherstürmt. Oder als er mit hängenden Schultern das Buch inspiziert, das auf Martins Bett liegt und von dessen neuem Liebhaber geschrieben wurde.

Aber natürlich hält diese Abgewandtheit niemanden davon ab, Tomas zu erliegen. Dass die Kamera minutenlang draufhält, hilft zu verstehen, warum. Wenn sich Agathe und Tomas zum ersten Mal zu zweit in einem Raum aufhalten, werden Sekunden zu Stunden. Unschlüssiges Nebeneinanderstehen, Augenkontakt erst meiden, dann wagen, bevor die Instrumente der Verführung gestreckt werden. Nie war Verletzlichkeit so nervenaufreibend wie hier. An anderer Stelle ist es Tomas’ verzweifelter Ausruf «So kannst du nicht gehen!», der Martin zur Umkehr bewegt, obwohl er als Betrogener gerade das Haus verlassen wollte. Wenn Martin dann zärtlich, aber auch ermüdet die Hand an die Wange seines Partners legt und «wir schaffen das schon» sagt, ist es schwer zu entscheiden, ob man den beiden die Daumen drückt oder im Sinne aller auf die Trennung hofft.

Je stärker Sachs Tomas’ Verhalten mit anderen Interaktionen kontrastiert, desto eher fragt man sich aber, wohin diese Reise eines Getriebenen führen soll. Erhellend ist der Zusammenschnitt zweier Begegnungen im Café. Martin erscheint – frisch zerstritten mit Tomas und gekleidet in eine hellblaue Seidenbluse (die Ausstattung ist ein Trost inmitten all dieser menschlichen Tristesse) – zu einem Treffen mit einem Literaturagenten, der seinen gutaussehenden Shooting Star Clément (William Nadylam) dabei hat.

Es entspinnt sich ein Kennenlernen, das schöner nicht sein könnte: Interesse, Augenkontakt und eine Offenheit bestimmen das Gespräch zwischen Martin und Clément, das sich schon bald zu viel mehr entspinnen wird. Als Tomas dazukommt, kippt die Stimmung ins Aggressive: Die Bedrohung spürend, nimmt er Clément ins Kreuzverhör, bohrt unbeeindruckt in dessen Karriereplänen und setzt ihn so erfolgreich unter Druck, dass sich Cléments nervöses Zappeln über die Leinwand hinaus überträgt.

Das Wechselbad der Gefühle, das einen in den verbleibenden Minuten erwartet, währt aber nicht ewig, im Gegenteil. So raffiniert auch die Filmszenen Bezug aufeinander nehmen und spiegeln: Seltsamerweise gewöhnt man sich an die Reibung der Persönlichkeiten, sodass sich die Dreiecksgeschichte mehr und mehr abkühlt und die lauwarmen Aspekte des Lebensstils in den Vordergrund rücken: Führen Tomas und Martin eigentlich eine offene Beziehung? Warum erwägen sie das nicht als Lösung ihrer Ehe am Scheideweg, wo doch beide Teil der internationalen Bohème sind, die Konventionen gern hinterfragt? Und mit Blick auf den tragischen Helden, der alle in den Abgrund zu reißen droht: Warum um alles in der Welt machen Agathe und Martin das mit?

Antworten liefert «Passages», wie es sich für einen guten Film gehört, zuhauf, sodass am Ende nur noch eine Frage im Raum steht: die nach der persönlichen Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse. Wo liegen die Grenzen des Tolerierbaren in der Liebe? Dass im Krieg und in der Liebe alles erlaubt sei, entpuppt sich beim Zusehen jedenfalls als überholtes Wunschdenken, das auf Kosten der Beteiligten geht.

«Passages»: Frankreich 2023, Regie und Drehbuch: Ira Sachs. Mit: Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos. 91 Minunten, Start: 31.8.

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