- Kultur
- Russland
Tragödie und Farce
Wladislaw Hedeler war unterwegs in der Russischen Föderation
Um das Heute zu verstehen, muss man das Gestern kennen. Um gegenwärtige Zustände beurteilen zu können, sollte man sich die Mühe machen, deren Vorgeschichte zu studieren. Das bedeutet nicht, dass Entscheidungen oder Fehlentscheidungen vorheriger Akteure – wie es neudeutsch heißt – alternativlos zur jeweils gegebenen Situation führen mussten.
Zu lesen ist in dem hier anzuzeigenden Band, dem der Leipziger Universitätsverlag großzügig eindrucksvolle fotografische Impressionen beifügte, unter anderem: Strahlend blauer Himmel und plötzlicher Kälteeinbruch mit Temperaturen bis 32 Grad Celsius unter Null und 38 Grad unter Null in der näheren Umgebung spielen in vielen Kommentaren eine größere Rolle als die Wahlbeteiligung, die bescheiden ist. Gähnende Leere auch in den Wahllokalen in Sankt Petersburg und in der russischen Provinz; nur die Haftanstalten melden eine Wahlbeteiligung von 95 Prozent. Die großen, »reichen« russischen Parteien und Wahlbündnisse dominieren im Fernsehen, die Opposition kann sich nur Aufkleber an Metro-Türen und Häuserwänden leisten.
Im Stundentakt übertreffen sich die Nachrichtensendungen mit der Präsentation schier unerschöpflicher Skandalmeldungen. Während der Präsident bis in die Nacht über Dokumente gebeugt arbeitet, tobt in den Chefetagen privater Firmen ein erbitterter Kampf um die Gunst von Funktionsträgern auf allen Ebenen, vom Generalstaatsanwalt über den Milizchef bis hin zum Bürgermeister eines Rayons. Sich stark gebärdende Männer in Leder- oder Tarnjacken geben den Ton an. Putin ist ein Meister solcher Aktionen.
Auf dem Roten Platz in Moskau erklingt regelmäßig am 1. und am 9. Mai der Schlachtruf »Für Stalin, für die Heimat«. An Tourismusmagneten in russischen Metropolen bieten sich Doppelgänger von Stalin, Lenin und Putin für Selfies an. Ein Vokabular, fast wortgetreu der »Geschichte der KPdSU« entnommen, scheint in den Medien wieder auf. Wobei nicht die tatsächliche Gedankenwelt der jeweiligen politischen Strömung oder Richtung eine Rolle spielt, Klischees und verlogene Geschichtsbilder diktieren das Bewusstsein. Im Unterschied zu der in Deutschland vertretenen These, dass »in Europa das Gespenst des Kommunismus verschwunden« sei, heißt es in Russland, dass es immer noch umgehe. Entsprechend sind kommunistische und antikommunistische Publikationen erhältlich.
Für ausländische Beobachter und Kommentatoren war die Deutung des russischen Parlamentarismus und der russischen Parteienlandschaft schon immer kompliziert, sie scheitern vielfach gerade auch an der russischen Sprache, an ihrer Bildhaftigkeit, worüber es etliche Anekdoten gibt. So wurde im Westen schon mal »Chwostismus« mit »Schwanzpolitik« übersetzt anstatt Nachtrabpolitik, oder die Zeitung »Rabotschaja Mysl« (Arbeitergedanke) als »Arbeitermüsli« transkribiert. Apropos: Schon lange vor der westlichen Sanktionspolitik haben auf dem Schlachtfeld der Molkereiprodukte in Russland die einheimischen »Milaja-Mila«-Erzeugnisse gegen »Milky Way« gewonnen.
Vieles ist neu in Russland. Vieles ist beim Alten geblieben. Die landesweite Modernisierung hat um die Müllabfuhr bisher einen Bogen gemacht. Die ewig offenen Müllkästen und den vom Wind in alle Gassen und Ecken verstreuten Abfall findet man immer noch. Den Subbotnik (freiwilliger Arbeitseinsatz samstags) gibt es noch: Es ist jedoch die Macht der Gewohnheit und nicht die Liebe zum Staat, die den Griff der Bürger zum Besen und zum Farbtopf erklärt. Im Frühjahr wurden schon immer die Fassaden gestrichen und die über den Winter abgedichteten Fensterrahmen vom Kleister befreit. Auch die »Deschurnajas« sind noch da, andernorts Concierges oder Poitiers genannt, die alle Mieter kennen und niemanden passieren lassen, der nicht angemeldet ist. Ins berühmt-berüchtigte Hotel Lux, in dem in den 30er und 40er Jahren Komintern-Funktionäre und Politemigranten wohnten, die irgendwann vom NKWD verhaftet wurden, haben sich inzwischen Notare, Übersetzer, Steuerberater, Reiseveranstalter und sonstigen Firmen mit Phantasienamen einquartiert. Der Alltag in den russischen Metropolen und erst recht auf dem Land ist trotz der ständigen Meldungen über anhaltende Stabilität weder einfacher noch fröhlicher geworden. In Russland scheint sich vieles zu wiederholen. Das Marx-Zitat, in dem von der Tragödie und der Farce die Rede ist, bleibt aktuell.
Die hier wiedergegebenen Beobachtungen hat der Berliner Historiker Wladislaw Hedeler während seiner Studienreisen nach Moskau, Nowosibirsk, Sankt Petersburg und Tomsk Ende der 90er/Anfang der 2000er Jahre gemacht und für »Das Blättchen«, eine zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift, niedergeschrieben. Die Reflexionen aus Jelzins Russland und der ersten Dekade von Putins Regentschaft sind nach wie vor aktuell.
Anfang der 90er Jahre sei die Hoffnung auf Reformen und Demokratie noch nicht diskreditiert gewesen, schreibt Hedeler. »Die Perestroika interpretierten viele als Übergang zur Bürgergesellschaft.« Der Begriff »Grashdanskoe obschtschewstwo« (Zivilgesellschaft) werde in einer »Geschichte Russlands« von 1995 wie folgt definiert: »Gesamtheit freier Individuen und sich freiwillig formierender Assoziationen und Organisationen von Bürgern, die sich durch Gesetze gegen eine direkte Einmischung durch die Staatsorgane schützt. Die Zivilgesellschaft existiert im Rahmen einer komplizierten Wechselwirkung mit dem Rechtsstaat.« Die Formulierung lässt die Konflikte erahnen, die das heutige Russland beuteln und belasten (aber auch westliche Demokratien). Hedeler erinnert sich: »Der Akzent lag auf der Forderung, dass der Staat für den Bürger und nicht der Bürger für den Staat da sein sollte.«
Jelzins letzte Jahre als Präsident seien als Jahre der auf Gorbatschows Perestroika folgenden Katastroika in die Geschichte Russlands eingegangen. »Jelzins Rücktritt im Dezember 1999 und Putins Amtseinführung markieren das Ende der Wirren, einer für die Russen komplizierten Zeitspanne voller Auf-, Um- oder Aufbrüche«, urteilt Hedeler. »Verglichen mit den Jahren meiner Aspirantur in Moskau von 1982 bis 1985, als kurz nacheinander drei Generalsekretäre der KPdSU starben, war es ebenfalls eine, wenn auch auf andere Weise, aufregende Zeit.« Es war für Russen freilich auch eine Zeit, in der es oft um die eigene Existenz ging. »Sie mussten in einem immer aggressiver werdenden gesellschaftlichen Umfeld ums Überleben kämpfen. Bezugsscheine, Straßenhandel, Sonderzuteilungen, Rationierung und andere Varianten der Versorgung unter Bedingungen der zunehmenden Krise sprengten den Rahmen der in Deutschland gesammelten Wende-Erfahrungen.«
Äußerst lesenswerte Miniaturen, denen man eine Fortführung gewünscht hätte. Aber: »Alle meine jüngsten Forschungs- und Publikationsvorhaben, zu denen ich zuletzt Archivreisen nach Petersburg und Moskau plante, und verabredete Treffen mit Kollegen und Freunden zu Veranstaltungen, die in Ufa und Kiew vorbereitet wurden, hatten sich nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 faktisch über Nacht erledigt. Die gesamte Entwicklung gleicht einem Desaster.« Kontakte seien abgebrochen, bedauert der 1955 am Verbannungsort seiner Eltern geborene Wissenschaftler. »Einige der Kollegen leben inzwischen in Frankreich, Großbritannien, Polen oder auch in Deutschland. Themen wie Exil oder auch staatlicher Terror haben eine völlig neue Aktualität gewonnen und verdrängen inzwischen die meisten zuvor im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Fragestellungen. Vieles, was doch überwunden und erledigt schien im Russland des 21. Jahrhunderts, ist heute wieder an der Tagesordnung. Wie konnte das passieren? Was ist geschehen?«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.