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Tauwetter und Perestroika: Der zähe Schlamm der Geschichte
Das Kino Arsenal in Berlin zeigt Filme über Tauwetter und Perestroika in der Sowjetunion
Es dauert noch Jahre, bis nach Stalins Tod 1953 die Menschen auch im sowjetischen Film als Menschen mit Gefühlen und nicht bloß als (letztlich beliebig austauschbare) gesellschaftliche Funktionselemente gezeigt werden. Ja, mitunter waren sie Helden, wenn sie sich für die sozialistischen Ideale opferten! Meist aber wurden sie aus bloßem Machtkalkül geopfert, ohne gefragt zu werden. Fürs Vaterland und den großen Stalin sterben? Nein, ab Ende der 50er Jahre wollte man leben, lieben, reisen – und schon mal mit bösem Witz die ideologischen Worthülsen der Staatspartei karikieren.
Die Tauwetter-Phase des sowjetischen Films beginnt 1957 mit »Wenn die Kraniche ziehen«, in der Hauptrolle Tatjana Samoilowa. Es geht um eine unerfüllte Liebe mitten im Krieg, um ungestillte Sehnsucht. Plötzlich ist da eine zarte Poesie, die heute immer noch anrührt. Liebe statt Kampf, Zärtlichkeit statt Agitation, eingestandene Schwäche statt Stärkeposen, stammelndes Flüstern statt brüllender Parolen! Wir sind aus lauter Widersprüchen gemacht, aus so krummem Holz, wie der Philosoph Immanuel Kant wusste, dass kein gerades Stück daraus wird. Kurz gesagt: Der ewige Held wird Mensch, er darf endlich wieder weinen und lachen, auch ohne offiziellen Anlass. Ein ganzes Land will die Herzenskälte der Stalinzeit und die Kaltschnäuzigkeit der ewigen Tschekisten, die über Leichen gehen, hinter sich lassen. Wie? Indem man den grauen Alltag verzaubert, ihn poetisch weitet.
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Hier vollzieht sich eine stille Humanisierung des heroischen Menschenbildes der Stalinzeit – und eine Filmreihe im Berliner Kino Arsenal begibt sich den ganzen September über auf Spurensuche. Fast 20 Filme werden gezeigt, die meisten von Einführungsvorträgen und Gesprächen begleitet.
Wichtige – verbotene – Filme, die einem bei diesem Thema sofort einfallen, fehlen jedoch. Nicht gezeigt wird »Die Kommissarin« von Alexander Askoldow, gedreht 1967, der Tauwetter-Film schlechthin. Erzählt wird die Geschichte einer Politkommissarin im Bürgerkrieg der Roten gegen die Weißen. Übermäßig hart agiert sie – und wird plötzlich schwanger. Zurückgelassen von ihren Mitkämpfern bekommt sie das Kind bei einer jüdischen Kesselflickerfamilie und entdeckt ihre mütterlich-weiche Seite, um dann jedoch wieder ihre Uniform anzuziehen. Der jüdische Kesselflicker sagt dann einen Satz, den man nicht vergisst: »Die beste Zeit für den Menschen ist, wenn die eine Macht weg und die andere noch nicht da ist.«
Ebenfalls kommt nicht vor »Die Reue« von Tengis Abuladse, der in der DDR 1987 für viel Aufregung sorgte, denn erstmals protestierten auch SED-Mitglieder gegen das auf Erich Honecker zurückgehende Verbot dieses forciert antistalinistischen Perestroika-Films, den man in der DDR nur via ZDF schauen konnte.
Doch Nadežda Fedorova und Gary Vanisian, die die Reihe kuratierten, haben aus der Vielzahl von Aufbruchsfilmen eine ganz eigene – mitunter überraschende – Auswahl getroffen, darunter Filme, die hierzulande kaum bekannt sind. Der für mich schönste: »Der Sonne nach« von Michail Kalik von 1961. Eine ganz und gar ungewöhnliche filmische Meditation, eine Art Gründungsdokument einer »Nouvelle Vague« im sowjetischen Film der 60er Jahre, auch die »Schestidesjatniki« (die Sechziger) genannt. Ein sechsjähriger Junge läuft ganz allein durch die Stadt, immer der Sonne entgegen, die schließlich als roter Ball am Horizont steht, bevor sie untergeht. Er begegnet Menschen, spricht mit ihnen und läuft weiter, Träume mischen sich unter das Gesehene, und man weiß nicht, ob man dies hier als Roadmovie en miniature oder als Pilgerreise zur Sonne bezeichnen soll. Ein kunstvoll rhythmisiertes Tableau kindlichen Sehens, dessen Naivität zugleich etwas Mythisches hat. Der jüdische Regisseur wurde für diesen formal mutigen Film international gefeiert, aber in der Sowjetunion von Kulturfunktionären angefeindet: »Wenn der Mensch der Sonne folgt, dann heißt das, dass er in den Westen geht.«
Den Tauwetter-Filmen der frühen 60er Jahre haftet etwas Leichtes und Verspieltes an, sie sind voller hintersinnigem Witz, getragen von einem Aufbruchsgeist, der an die eigene Stärke glaubt. So auch bei Elem Klimow, der hier nicht mit seinen großen Filmen »Geh und sieh«, »Agonia« oder »Abschied von Matjora« vertreten ist, sondern mit jenem Film, den der 30-jährige Regisseur 1963 drehte: »Herzlich willkommen oder Unbefugten ist der Eintritt verboten« über ein Pionierlager als Spiegel der poststalinistischen Gesellschaft mitsamt ihren absurden Ritualen. Dynin, der Leiter des Lagers, ist eine Gogol’sche Figur. Inbegriff der Unaufrichtigkeit, versucht er nach außen den Anschein von fröhlichem Ferienlager zu erwecken, aber tritt nach innen als Despot auf, der jede zaghafte Unbeschwertheit sofort mittels unsinniger Direktiven und Nachstellungen zerstört.
Klimow probt mit seiner Persiflage die Revolte: Kostja, der wegen Eigenmächtigkeit strafeshalber nach Hause geschickt wird, versteckt sich im Lager. Ein fröhlicher Untergrundkämpfer in Sachen alltäglicher Anarchie. Auch die kleinen Spitzel, von denen man hier nur die eifrig wirbelnden Kinderbeine sieht (!), wenn sie dem Lagerleiter Bericht erstatten, erhalten ihre Lektion. So erwächst aus dem »Lager«, diesem Angstbegriff der Stalinzeit, das fröhliche Versuchsfeld einer sich selbst befreienden Gesellschaft.
Dem Übermut der Tauwetter-Filme der frühen 60er, mit ihrer Lust am filmischen Experiment, stehen Filme von Ende der 80er Jahre gegenüber, als die Perestroika in vollem Gange war. Da sollte es keine politischen Tabus mehr geben. Aber gerade die Filme aus dieser Zeit, in der alles möglich wurde, als man Demokratie mit Sozialismus verbinden wollte, zeigen ein anderes Gesicht: das der Zerstörung, der Hoffnungslosigkeit. Darin liegt schwer zu widerlegender Realismus. Kam die geistige Befreiung zu spät, traf sie in den 80er Jahren auf lauter tote Seelen?
Isaak Fridberg drehte 1989 das Melodram »Die Puppe« über eine erfolgreiche sowjetische Sportgymnastin, die wegen einer Rückenverletzung den Leistungssport aufgeben muss und an eine Schule in der russischen Provinz kommt. Die neuen Mitschüler sind lauter Zyniker. Sie gerät in einen Dauerkrieg mit ihnen, in dem sie sich, durch den Sport hart geworden, zu behaupten scheint – dennoch zerbricht etwas in ihr.
Den Dokumentarfilm »Rok« schuf Alexei Uchitel 1986 als ebenso dunkles wie kraftvolles Dokument der Gegenkultur: sowjetische Rockmusik jenseits aller offiziellen Foren als Ausdruck eines Lebensgefühls, das die empfundene Enge aufsprengen will – ohne zu wissen, wie und wozu.
Seltsam, diese späten Perestroika-Filme, die eine ganz andere Atmosphäre vermitteln, als wir sie in der DDR zu erspüren meinten. Wir wollten an den späten Versuch glauben, Sozialismus und Freiheit (ebenso wie Schönheit) zusammenzubringen. In der Sowjetunion aber herrschte – gerade unter Jugendlichen – nur noch Apathie, purer Selbstekel, der dann in den folgenden postsowjetischen Zeiten bei den einen in überbordende Westeuphorie, bei den anderen in slawophilen Nationalismus umschlug. So versinken all die klugen und weniger klugen Reformdiskurse letztlich im Schlamm der Geschichte. Und der erweist sich als zäh.
Das zeigt auch bereits »Kleine Vera« von Wassili Pitschul. Gedreht 1988 im ukrainischen Mariupol handelt er vom tristen Alltag einer 17-Jährigen, deren Vater, ein Kraftfahrer, sich zu Tode trinkt. Überall herrscht herzenskalte Gleichgültigkeit, die Erosion aller Werte betrifft die Gesellschaft ebenso wie den Einzelnen. Liebe existiert nicht mehr, bestenfalls Maximierung von Spaß. Dieser Film wurde dann im Westen als »erster erotischer Film aus der Sowjetunion« vermarktet; Hauptdarstellerin Natalja Negoda war als erste sowjetische Schauspielerin mit Nacktfotos im »Playboy« zu sehen. Aber das ist schon Teil der Rekapitalisierung Russlands.
»Jugend, Aufbruch und Widerstand im sowjetischen Kino – Tauwetter und Perestroika«: 1. bis 30. September im Kino Arsenal in Berlin. Mehr Infos unter: www.arsenal-berlin.de
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