- Kultur
- Corona
Pandemie: It’s All Over Now, Baby Blue
Gibt es eine Normalität nach der Pandemie?
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Manchmal erinnern einzelne Menschen, die in Zügen Maske tragen, an vermeintlich längst vergangene Zeiten. Dabei gilt Corona erst seit letztem Jahr als endemisch, und nur etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass das Robert-Koch-Institut im Juni 2022 Fallzahlen veröffentlichte. Trotz allem, was wir in den letzten Jahren über Pandemiebekämpfung gelernt haben, steigt die Zahl der Infektionen mit der neuen Corona-Variante »Eris« wieder, und der Epidemiologe Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie rief dazu auf, sich bei Erkältungssymptomen wieder selbst zu testen. Corona offenbarte uns zahlreiche gesellschaftliche Probleme, und kurz schien es, als würde sogar einiges besser werden: Die Luft war ohne Flugverkehr klarer, Menschen in Care-Berufen bekamen ansatzweise die verdiente Anerkennung, und es war in aller Munde, Risikogruppen zu schützen. Für Erzieher*innen oder Pflegekräfte hat sich seitdem aber nichts an ihrer Arbeitssituation verbessert, immer mehr von letzteren geben diesen Beruf sogar ganz auf.
Vergessen scheint der Schutz von Risikogruppen wie chronisch kranken Menschen, denn sie sind sowieso unsichtbar in unserer Gesellschaft. Nicht nur vulnerable Gruppen sollten das Virus weiterhin nicht unterschätzen; laut einer aktuellen Studie ist das Risiko für gesundheitliche Beschwerden auch zwei Jahre nach der eigentlichen Infektion erhöht. Auch für Long Covid gibt es bisher keine Behandlung. Krankenhäuser haben wieder auf Normalbetrieb geschaltet, und auch in den Schulen läuft der Unterricht, als wäre nichts gewesen, obwohl laut einer Metastudie den Schüler*innen im Durchschnitt 35 Prozent des sonst in einem Schuljahr erzielten Lernfortschritts fehlt. Die Auswirkungen auf das soziale Miteinander in der Schule wurden gar nicht erfasst, dürften jedoch weiterhin nachwirken. Im Gespräch mit der »Taz« konstatierte der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, die Bundesregierung nehme zwar die medizinischen Langzeitfolgen der Corona-Pandemie ernst, aber nicht die psychischen und sozialen. Die Menschen seien erschöpft, und er sehe eine Analogie zum Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung. Gibt es also überhaupt eine Normalität nach der Pandemie?
Ich merke an mir selbst, wie sehr die einsamen Corona-Winter mich weiterhin belasten. Mein erstes Kind bekam ich mitten im Lockdown des zweiten Jahres der Pandemie. Ich hatte keine traumatische Geburt, aber denke ich an die Umstände zurück, bekomme ich einen Kloß im Hals. Mein Partner durfte zur Geburt selbst zwar anwesend sein, doch die Tage davor und danach, die ich im Krankenhaus war, durfte er nicht zu Besuch kommen und seine neugeborene Tochter nicht sehen. Es dauerte Monate, bis ich mein Kind Familie oder Freund*innen auf dem Arm halten ließ, aus Angst vor Ansteckung. Ich bin gerade mit meinem zweiten Kind schwanger, und diese »normale« Schwangerschaft ist so anders. Durch sie kann ich meine vorherige verarbeiten. Ich habe die Ressourcen und die Möglichkeit zu dieser Verarbeitung. Es bräuchte jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung, psychologische Beratungsangebote für die, die auf den Intensivstationen gearbeitet haben, mehr Unterstützung für die Alleinerziehenden sowie die Kinder und Jugendlichen, die keine Lobby haben, aber die schwerste Last tragen mussten. Und zwar bevor der nächste Ausnahmezustand kommt. Bettina Wilpert
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.