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»Manchmal ist es einfacher, Schuldige zu finden«

Die Beraterin Sonja Marzock über Attraktivität und Gefahren von Verschwörungserzählungen

Sonja Marzock berät in Berlin Menschen, deren Angehörige Verschwörungserzählungen anhängen.
Sonja Marzock berät in Berlin Menschen, deren Angehörige Verschwörungserzählungen anhängen.

Cui bono, Frau Marzock, wem nutzen Verschwörungserzählungen?

Das ist eine Frage, die sich durch meine gesamte Arbeit zieht. Zum einen nutzen sie der extremen Rechten. Einfach, weil sich durch Verschwörungserzählungen bestimmte Narrative verschieben. Das Sagbarkeitsfeld, was antisemitische oder migrationsfeindliche Äußerungen angeht, wird größer.

Zum Beispiel?

Seit im Jahr 2010 Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« erschienen ist, lässt sich feststellen, dass in der öffentlichen Debatte so einiges wieder sagbarer geworden ist. Schauen Sie sich nur mal die AfD an. Allein aus den Reihen dieser Partei werden regelmäßig Verschwörungserzählungen geteilt und damit Stück für Stück salonfähig gemacht.

Wer profitiert noch?

Diejenigen, die Verschwörungserzählungen in die Welt setzen. Mit ihren Verlagen und Büchern verdienen Personen aus der verschwörungsideologischen Szene schon seit Jahrzehnten gutes Geld.

Was ist die absurdeste Verschwörungserzählung, die Ihnen bislang untergekommen ist?

Die Erzählung um die Hohlerde ist schon ziemlich lustig. Deren Anhänger*innen gehen davon aus, dass es im Inneren des Erdkerns noch einen weiteren Planeten gibt und eine Verbindung von den Polkappen aus nach Neuschwabenland in der Antarktis existiert. Dort wiederum soll eine geheime Gesellschaft aus ehemaligen hochrangigen Nazis leben, unter ihnen Adolf Hitler und Eva Braun, die dort eine neue »Herrenrasse« ausbilden. Ein Freund von mir wohnt in Brasilien, dem wurde tatsächlich mal gezeigt, wo diese Hohlerde anfangen soll. Also dem wurde wirklich ein realer Ort gezeigt und gesagt: So, hier gelangst du jetzt in diese Hohlerde. Das finde ich schon ziemlich absurd!

Von welchen Verschwörungserzählungen hören Sie in der Berliner Beratungsstelle »entschwört« am häufigsten?

Wir haben ja 2021, also mitten in der Covid-19-Pandemie angefangen. Und da standen natürlich Themen wie das Testen und das Impfen sowie die Angst vor gesundheitlichen Folgen ganz oben auf der Liste. Oft erzählen uns Angehörige, dass für sie in dieser Zeit ab einem bestimmten Punkt eine rote Linie überschritten wurde. Etwa, wenn sie von Familienmitgliedern Nachrichten auf Whatsapp mit Shoah-Vergleichen weitergeleitet bekamen, in denen die Rede davon gewesen ist, dass die Ungeimpften nun die neuen Jüd*innen seien.

Kommt man da noch mit Argumenten weiter?

In der Regel nicht. Viele leben einfach schon so sehr in ihrer eigenen Realität, dass sie der Überzeugung sind, dass das, was in den Leitmedien erzählt wird, sowieso nicht der Wahrheit entspricht. Das wird dann auch immer schnell zum Totschlagargument. Eine andere weitverbreitete Strategie ist das sogenannte Whatbaoutism. Wenn man etwa sagt: »Putin hat doch die Ukraine angegriffen«, wird einem entgegnet: »aber Selenskyj hat doch dieses und jenes gemacht«. Das heißt, man lenkt immer weiter vom ursprünglichen Gegenstand ab, sodass das Gegenüber – selbst wenn es sich auf ein Thema vorbereitet hat – irgendwann gar nicht mehr in der Lage ist, vernünftig zu argumentieren.

Zu welchem Umgang raten Sie in solchen Situationen?

Grundsätzlich gilt: Diskussionen immer nur so lange führen, wie es einem selbst damit gut geht. Wenn ich merke, dass keine Debatte mehr zustande kommt und mein Gegenüber nur seine Theorien bei mir abladen will, dann muss ich aus der Situation rausgehen. Wichtig ist, sich klarzumachen: Ich kann meinen eigenen Anteil verändern, aber ich kann das Gegenüber nicht verändern.

Im Familienkontext nicht unbedingt die leichteste Übung …

Ganz und gar nicht. Und das hat häufig auch etwas von einem Trauerprozess, weil man merkt, dass man sich vom Bild der eigenen Eltern, mit denen man ja aufgewachsen ist, verabschieden muss. Von der Mutter, mit der man früher selber noch auf Anti-Nazi-Demos gegangen ist, vom Vater, der vielleicht schon immer ein gewisses Interesse für Esoterik hatte, aber jetzt auf einmal komplett in so ein rechts-esoterisches, völkisches Milieu abgedriftet ist.

Verschwörungserzählungen gab es ja auch schon lange vor Beginn der Pandemie. Etwa um den Mord am ehemaligen US-Präsidenten J.F.-Kennedy oder um die Mondlandung. Diese klingen vergleichsweise harmlos zu dem, was uns in den vergangenen Jahren begegnet. Was hat sich da geändert?

Zum einen ist es mit Dark Social wie Telegram oder Social Media und Youtube-Kanälen natürlich um ein vielfaches einfacher geworden, dass bestimmte Verschwörungserzählungen ihre Verbreitung finden. Zum anderen hat es aber auch mit dem gesunkenen Vertrauen vieler Menschen in die Medien zu tun. Heutzutage kann ich von überall meine Informationen beziehen. Und da ist es natürlich verlockend, im Zweifel auf das eigene Bauchgefühl zu hören und sich das bestätigen zu lassen, was ohnehin schon dem eigenen Weltbild entspricht.

Wann sind Sie selber das erste Mal mit Verschwörungserzählungen in Berührung gekommen?

Als Teenagerin habe ich mal diesen Film »23« über den deutschen Hacker Karl Koch gesehen. Und ab da war das bei uns im Freundeskreis so ein Running Gag, dass wir halt überall diese Zahl gesucht haben. Das Prinzip dahinter: Wer suchet, der findet – und nichts ist so, wie es scheint. Eine Zeit lang war das auch lustig, aber im Laufe meiner Politisierung habe ich irgendwann angefangen, das zu hinterfragen. Das muss so die Zeit gewesen sein, in der mir auch aufgefallen ist, dass in manchen antikapitalistischen Mobilisierungen mit der Krake als Symbol hantiert wurde, bei der es sich ja um eine eindeutig antisemitische Chiffre handelt.

Gibt es eigentlich auch linke Verschwörungserzählungen?

Ohne jetzt ein Extremismusmodell zu bedienen, ja. Man muss sich nur mal die Montagsmahnwachen anschauen, die 2014 aus den Friedensdemonstrationen hervorgegangen sind, zu deren berühmtesten Köpfen Ken Jebsen oder Xavier Naidoo gehörten. Die haben sich auch als antikapitalistisch und links bezeichnet, aber in ihrer manichäischen Aufteilung der Welt in Gut und Böse ebenfalls auf antisemitische Narrative zurückgegriffen. Dabei sollte linke Politik doch genau das Gegenteil sein: Da geht es nicht um Verschwörungsdenken, sondern darum, gesellschaftspolitische Entwicklungen zu kritisieren und zu gucken, was man selbst machen kann.

Was macht Verschwörungserzählungen überhaupt so attraktiv?

Wir leben in einer globalisierten Welt, die zunehmend komplexer und krisenhafter wird. Da ist es manchmal einfacher, Schuldige für Dinge zu finden, die man sich nicht erklären kann – seien es nun Verfehlungen in der Politik oder der Ausbruch einer globalen Pandemie. Im Zweifel gibt es da einige Unbekannte, die im Hintergrund die Fäden ziehen und einen geheimen Plan verfolgen. Wenn ich daran glaube, dann entlastet mich das natürlich total. Denn es befreit mich davon, Verantwortung zu übernehmen – für mich selber genauso wie für gesellschaftliche Entwicklungen.

Das heißt, manche Menschen sind eher anfällig für Verschwörungserzählungen als andere?

Ja, denn das Ganze hat auch etwas mit Anerkennung und Selbstwirksamkeit zu tun. Oftmals hängen Menschen diesen Erzählungen an, weil sie selber mal in persönlichen Krisen gesteckt haben. Bei anderen hat die Pandemie dazu geführt, dass sie noch mal tiefer ins Thema eingestiegen sind. Die treffen dann plötzlich Menschen, die das Gleiche wie sie selbst denken und das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie so akzeptiert werden, wie sie sind. Das hören wir immer wieder, wenn es um die psychologischen Funktionsweisen hinter Verschwörungserzählungen geht: Man ist auf der Suche und bekommt einen Ort geboten, wo man dazugehört und der einem Halt und Sicherheit gibt. Letzten Endes ist das eine ähnliche Motivation, wie man sie auch von Sekten kennt.

Interview


Sonja Marzock hat Politologie, Sozialwissenschaften und Gender Studies in Bochum und Duisburg studiert. Sie lebt in Berlin und ist Projektleiterin bei »entschwört. Beratung zu Verschwörungsmythen im persönlichen Umfeld«, das Teil des Ost-Berliner Sozialträgers »pad gGmbH – präventive altersübergreifende Dienste im sozialen Bereich« ist.

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