Leben am Görlitzer Park: Nein zum Zaun

Anwohner aus dem Wrangelkiez wenden sich gegen eine nächtliche Schließung des Görlitzer Parks

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 6 Min.

»Wisst ihr zufällig, wo die Jungs Autoschlüssel bunkern?«, fragt eine Frau und tritt mit einem Bier in der Hand aus einem Späti in die Runde. Ihr sei eben im Görli der Rucksack geklaut worden. »Ich denk doch nicht dran, dass sich jemand von hinten aus dem Gebüsch anschleicht und meinen Rucksack zockt«, sagt sie. Für 100 Euro habe ihr einer der Männer das Diebesgut wiedergegeben – nur der Autoschlüssel habe gefehlt. »Puh, ich muss hier wegziehen«, stöhnt die Frau.

Taschendiebstahl, geklaute Fahrräder und Konflikte mit Drogenkonsument*innen: Das gehört zum Alltag für die Menschen im Kreuzberger Wrangelkiez. Was ebenso zum Alltag gehört: Racial Profiling, also systematische Polizeikontrollen und Kriminalisierung von schwarzen Menschen, Verdrängung, krasse Armut, Obdachlosigkeit, Verelendung. Einfache Lösungen gibt es nicht. Deshalb trifft sich am Montagabend zum zweiten Mal eine Gruppe von Nachbar*innen und Interessierten zu einem Spaziergang durch den nächtlichen Kiez, um Perspektiven zu teilen – und sich gegen politische Vereinnahmung zu wappnen.

Eingeladen hat die Initiative Wrangelkiez United. »Wir waren mittelschwer empört, als die Forderungen kamen, den Görli nachts zu schließen«, sagt David Kiefer, Sprecher der Gruppe. Seitdem im Juni eine mutmaßliche Gruppenvergewaltigung für viel Aufmerksamkeit sorgte, hat sich erneut eine Debatte um den Görlitzer Park als »Drogen-Hotspot« entsponnen. Die Umstände der Gewalttat sind nach wie vor unklar. Doch allein der Verdacht, bei den Tätern handele es sich um Dealer, reicht für den Ruf nach neuen Repressionen und bietet Raum für rassistische Angstmache.

Während SPD-Innensenatorin Iris Spranger sich für eine Umzäunung, nächtliche Schließung und partielle Videoüberwachung ausspricht, geht die CDU noch weiter. Auf einem Flyer, der in den Briefkästen der Anwohner*innen landete, fordern die CDU-Politiker im Abgeordnetenhaus Kurt Wansner und Timur Husein unter anderem »Einlasskontrollen, damit Schwerstkriminelle, die einen Platzverweis haben, nicht erneut in den Park kommen«. Am Freitag will der Senat bei einem »Sicherheitsgipfel« mögliche Konzepte entwerfen.

Die zehn Leute, die am Spaziergang teilnehmen, halten nichts von der Zaunidee. »Ich wohne hier im Kiez, ich wohne hier mit Kindern. Natürlich bin ich gegen den Zaun und für soziale Lösungen«, sagt Nina, die den Wrangelkiez schon seit Jahrzehnten kennt. Joana, eine jüngere Nachbarin, stimmt ihr zu: Da wohnten schließlich Menschen im Park, wo sollten die denn hin? »Der Kiez ist sich einig, dass eine Schließung die Probleme nur noch mehr in die Straßen verlagern würde«, sagt Kiefer. Das hätte sich auch bei einer Tour durch die anliegenden Geschäfte gezeigt.

Nicht nur für wohnungslose und suchtkranke Menschen fiele ein Rückzugsort weg, für die übrigen Nachbar*innen bedeute eine mögliche Schließung weniger Lebensqualität, betont Nina. Sie gehe gerne nachts auf dem Nachhauseweg durch den Park – wenn auch nicht am Hühnerhaus vorbei, wo viele Crack-Konsument*innen abhingen und es oft zu Auseinandersetzungen komme.

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Angst vor sexuellen Übergriffen spielt bei den Spaziergänger*innen nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten Vergewaltigungen fänden immer noch im nahen, familiären Umfeld statt, bemerkt Joana. Sie ärgere sich über die Instrumentalisierung der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung. »Es passiert so viel verdeckte Gewalt, gerade gegen Frauen, die selbst Crack konsumieren oder auf der Straße leben.« Doch da bleibe der Aufschrei aus. Eine weitere Teilnehmerin erinnert die derzeitige Debatte an die Diskussion nach Silvester 2015 in Köln. Da seien die Übergriffe auf der Domplatte ebenfalls instrumentalisiert worden, um rassistische Politik mit dem Schutz von Frauen zu rechtfertigen.

Unangenehme Situationen nachts im Park entstünden tatsächlich eher im Kontakt mit Drogenabhängigen, bestätigen die übrigen Anwesenden – aufdringliches Betteln, aggressives Auftreten oder ein Streit innerhalb der Szene, der auf Außenstehende übergreife. »Ich hatte schon zwei Konflikte mit Leuten, die etwas abgedreht waren«, sagt eine Teilnehmerin. »Meiner Tochter haben die Dealer geholfen, als sie angegangen wurde«, sagt ein weiterer Anwohner. Nina nickt: »Das höre ich immer wieder aus dem Kiez, die Dealer sind nicht das Problem.«

Wie aber mit den Suchtkranken umgehen? Dass im Görlitzer Park Drogen konsumiert werden, ist nichts Neues. Kiefer erinnert an die Null-Toleranz-Strategie unter dem CDU-Innensenator Frank Henkel: »Das hat schon nicht funktioniert. Im Gegenteil, es kam zu einer Verlagerung in den Kiez.« Mittlerweile habe sich die Lage mit der Verbreitung von Crack während der Pandemie noch verschärft. Denn anders als ein betäubender Heroin-Rausch, mache Crack-Konsum aggressiv und unberechenbar, erzählt Kiefer. »Die Leute kommen in einen Binge-Konsum, sodass sie mehrere Tage lang alles andere vernachlässigen, Essen, Schlafen, Hygiene.« Anstatt Suchtkranke zu verdrängen und polizeilich zu verfolgen, brauche es Konsum- und Aufenthaltsräume.

Doch Schwarz-Rot will den Park abriegeln und die Polizeipräsenz erhöhen. Was das für den Park und die Parkbesucher*innen bedeutet, ließ sich bereits vergangene Woche erleben. Da installierte die Polizei ab 21 Uhr einen riesigen Strahler in der Kuhle und leuchtete die Umgebung aus. »Es war kein Mensch mehr da. Die Polizei nannte das erfolgreich«, sagt Kiefer. Zusätzlich sei es an dem Abend zu zahlreichen rassistischen Kontrollen gekommen.

Solange es keine sinnvollen staatlichen Maßnahmen gibt, plädiert Kiefer für Eigeninitiative. »Ich denke, man muss in die Kommunikation gehen, wenn es denn möglich ist.« Der Alkoholiker, der Dealer, die Jungs vom Kiosk und die Obdachlose in der Nachbarschaft, »wir kennen uns alle«. Wenn dann einmal nachts die Musik auf der Straße zu laut sei, könne man eben runtergehen und das untereinander klären. »Es ist gleich ein ganz anderer Umgang.« Das löse natürlich nicht alle Probleme, aber trage zu gegenseitigem Verständnis bei.

Nina sieht das genauso. Als die Passantin auf der Suche nach dem gestohlenen Autoschlüssel um Unterstützung bittet, empfiehlt Nina ihr die nachbarschaftliche Chatgruppe. »Da werden auch gefundene Sachen gepostet.«

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